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Die Lonelygirl-Affäre

Dokumentation, Fiktion und die Entstehung einer neuen Kunstform

In den ersten Jahren nach der Erfindung des Kinos hatten 90% aller Filme einen dokumentarischen Inhalt. Nach 15 Jahren hatte sich dieses Verhältnis umgekehrt. Fiktionale Stoffe waren bei weitem in Überzahl. Die Erklärung für den Wandel ist einfach: Alltag und Wirklichkeit lieferten nicht genügend dramatische Ereignisse, um die steigende Nachfrage der Kinogänger zu befriedigen. So gingen die Kinoproduzenten dazu über, Filme zu erfinden anstatt Stoffe auf der Straße zu suchen.
Ein kleiner Skandal, der Mitte September einen Videosender erschütterte, zeigt, dass sich ein ähnlicher Wandel erneut vollziehen könnte. Bei dem Kanal handelt es sich nicht um einen herkömmlichen Fernsehsender, sondern um den Youtube-Channel „lonelygirl15“.

Über 40.000 Abonnenten verfolgten zwischenzeitlich die Geschichte eines Mädchens namens Bree. Im Verlauf eines Vierteljahres stellte sie gut 30 kleine Sequenzen her, in denen sie über ihr Leben in einer kleinen Stadt, ihre religiösen Eltern und ihren Freund Daniel berichtete. 3 Millionen Mal wurden ihre Videos heruntergeladen.

Nun stellte sich heraus, dass es bei Bree um eine neuseeländische Schauspielerin handelt, die vor kurzen nach Los Angeles gezogen war und von einer Agentur namens „creative artists agency“ gemanagt wird.
Nach der Enttarnung von Bree meldete sich eine Gruppe unabhängiger Filmemacher in einem Diskussionsforum. Sie verkündeten in einer Nachricht an die Fans die Geburt einer neuen Kunstform: Der überwältigende Erfolg unserer Videos hat uns vollkommen überrascht; unsere Erwartungen wurden mehr als übertroffen. Dank euch werden wir offenbar Zeuge, wie eine Kunstform entsteht.

Aussagen wie diese sind aus der Frühzeit des Films hinreichend bekannt. Sie tauchen immer dann auf, wenn ein Medium neue Formen, Produktionsweisen und eine neue Ästhetik hervorbringt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass jedes Medium in seiner Frühzeit vergleichbare ästhetische Phasen durchläuft. Beim Film folgte auf die Abbildung des Nächstliegendsten – wie etwa Fabrik der Erfinder Lumière – die Adaption herkömmlicher Kunstformen. Fiktionale Filme orientierten sich am Theater.

Das Kino erfüllt damit jenes Gesetz des Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan, demzufolge stets alte Medium zum Inhalt eines neuen Medium werden. Ein Schritt über Ästhetik das Theater hinaus gelang dem Film mit der Beherrschung des Schnitts und der Großaufnahme. Ihr verdankt sich die Geburt des Stars als einer Marketing-Figur, die Außendarstellung des Kinos und die Handlungen der Filme bis heute prägt.


lonelygirl hat bei zwei Medien Anleihen gemacht. Die Abfolge der Videos imitiert das Prinzip der Fernsehserie. Mit ihrer Präsenz bei myspace versucht sie nun, nachdem sich ihre Serie als Doku-Fake herausgestellt hat, den Sprung in die Existenz eines gewöhnlichen Stars zu schaffen.

Einerlei ob diese Verwandlung gelingen wird oder nicht, man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass auf Netzseiten, deren Inhalte vermentlich Nutzern und Amateuren generiert werden, professionelle Anbieter zunehmend nach Wegen zu suchen, Aufmerksamkeit zu bündeln und in kommerzielle Formen zu überführen. Die lonelygirl-Affähre könnte sich in die Hinsicht tatsächlich als ein Anfang herausstellen.