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Iconic Turn?

Längst hat sich in der Zeit des pictorial turn auch die traditionelle Kunstgeschichte verändert. Die immer weiter getriebene Erforschung der Physiologie der Wahrnehmung, wie sie Hirnforscher und Neurologen vorantreiben, wirft neue Fragen über die Prozesse der ästhetischen Wahrnehmung auf. Die wachsende Rolle der teleskopischen und mikroskopischen Bilder in der naturwissenschaftlichen Forschung hat unseren Blick dafür geschärft, wie viel Erkenntnisdrang und visuelle Forschung auch in den Bildern der Vergangenheit steckt. Als Zeugen der Verführungstechniken, welche uns die visuellen Medien täglich vor Augen führen, entdecken wir wieder, wie viel Gewalt, Grausamkeit, Begierde in den alten Bildern rumorte, die von ihrer Ästhetisierung lange Zeit unsichtbar gemacht worden waren. Mit den neuen Apparaten können wir vor den Bildern spielen und sie verändern. Längst arbeiten die aufgewachten Kunsthistoriker, vor allem in den angelsächsischen Ländern, mehr über Leidenschaften und psychische Prozesse als über Stile, mehr über Körpersprache als über Ikonographie, mehr über die Macht der Bilder als über deren Entstehung. Die Kunstgeschichte hat sich an ihrer vordersten Front also schon in eine Bildwissenschaft verwandelt, wobei das allerdings weniger ein Problem der quantitativen Erweiterung als eines der inneren Perspektive ist.

Und doch bleibt am Ende ein fundamentaler Einwand. Die Trennung zwischen der Welt der ästhetischen Erscheinungen und der Welt der praktischen Interessen, wie sie die kantische Kritik der Urteilskraft postuliert hatte, ist in der Zeit der Massenmedien trügerisch geworden. Die Medienwissenschaft, die sich neben der traditionellen Kunstgeschichte als eine Leitwissenschaft für die Untersuchung von Bildern etabliert hat, strebt nicht das reflexive ästhetische Urteil, sondern die praktische Untersuchung der Techniken an, mit denen Bilder konstruiert und vom Sender zum Empfänger geschickt werden. Alle die Untersuchungen zur Mediengeschichte von Faulstich bis zu Beltings erstaunlicher Schrift über die Entwicklung der Bilder von der byzantinischen Ikone bis zu den künstlichen Körpern sind brillante Verfahrensbeschreibungen.

Wenn es aber wahr ist, dass wir uns heute in der Gesellschaft mehr über Bilder als über Argumente verständigen, wenn der Zugriff auf die Bilder und das Geschäft mit den Bildern zu einem zentralen Instrument der politischen und ökonomischen Steuerung geworden sind, dann bleibt jede bloße Verfahrensbeschreibung ein sich den Wertungsfragen entziehender Positivismus. Technisch mag sie noch so bestechend sein, gesellschaftlich ist sie blind.

Eine Diskussion über die neuen Medien darf sich nicht auf noch so brillante Analysen der Verfahrensweisen und der Innovationen beschränken, weil die massenhafte Zirkulation der Bilder in der Mediengesellschaft zu einem öffentlichen Problem geworden ist. Wir lassen uns als Bürger keine falschen Argumente gefallen, wir dürfen uns aber auch nicht durch trügerische Bilder täuschen lassen. Daher darf nicht nur deskriptiv, es muss auch ethisch und zivil über den pictorial oder iconic turn gesprochen werden. Französische Theoretiker sprechen von einer »écologie des images«, einer »Ökologie der Bilder«. Eine bloße quantitative Erweiterung des alten Materials der alten Kunstgeschichte um andere Bilder wäre letal. Zu fordern ist eine kritische Bild- und Mediengeschichte, die in Erinnerung ruft, dass Bilder nicht weniger als Worte ein Problem der öffentlichen Gesittung und der guten Verständigung unter den Bürgern einer vernünftig denkenden Zivilgesellschaft sind. Wir dürfen nicht zu elektronischen Ikonodulen werden, sprach- und gedächtnislos wie die Struldbrugs in Gullivers Reisen. »Confunduntur omnes qui colunt sculptilia« - »Schämen müssen sich alle, die den Bildern dienen«, steht schon in den Psalmen. Deswegen meine ernst gemeinte Bitte um Ikonoklasmus.

(aus: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic-Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S.422 und 424f.)