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Echte Bilder und falsche Körper

Der Psychoanalytiker Tisseron gibt uns den praktischen Rat, die Bedingungen von Wahrnehmung kritisch einzuüben und, statt uns von Bildern navigieren zu lassen, selbst den Piloten im Umgang mit den Bildern zu spielen. Der Rat läuft darauf hinaus, dass wir Bilder durchschauen lernen sollen,um sie bewerten und einordnen zu können. In der zeitgenössischen Kunst kommen uns dabei jene Tendenzen entgegen, in denen die Bilder Selbstkritik treiben und den Betrachter in das Wissen einweihen, das sie um ihre Bildlichkeit besitzen. Sie fordern von uns eine semantische Anstrengung mit offenem Ausgang, die zum Ablesen einer visuellen Information in großem Gegensatz steht. Interpretation, als aktiver Part, ist überall dort gefordert, wo uns die Informationsgesellschaft im Stich lässt. Wenn wir uns Bilder durch Interpretation aneignen, betreiben wir letztlich Selbsterfahrung.

Ich spreche hier von Bildern in einer Weise, die für die digitalen Bildtechnologien gar kein wirkliches Thema ist. Dazu zählt auch der Anachronismus der Bilder, wie ihn der Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman formulierte. Er bezieht sich darauf, dass unser innerer Bildspeicher fast nur aus Bildern besteht, die zu anderen Zeiten in unserer eigenen Lebensgeschichte entstanden sind. Deshalb betrachten die verschiedenen Generationen die gleiche Welt mit verschiedenen Augen. Die so genannten »Replikanten« in Sciencefiction-Filmen werden entlarvt, weil sie sich im Gegensatz zu echten Menschen an keine Bilder erinnern können. Bilder in der Außenwelt, von den Bildern in Fotoalben bis zu den Bildern im Museum, laden uns sogar zu einem Blick auf Zeiten ein, in denen wir noch gar nicht gelebt haben.

In solchen Anachronismen korrespondieren Bilder mit unserer Imagination. Diese mag zwar eine Fähigkeit des Körpers sein, doch ist sie von Natur aus eigentlich dafür eingerichtet, uns von der Fessel der Körperbindung zu befreien. Gerade hieraus hat sich der Bilderreichtum der menschlichen Kulturen mit all seinen Freiräumen entwickelt, die es nur in Bildern gibt. Aber diese Freiräume werden auf der anderen Seite von der bildlichen Repräsentation vereinnahmt, die ihre Macht im öffentlichen Raum ausübt. Davon zeugen die zahllosen politischen Konflikte, wie sie in der Geschichte der Bilder so oft zwischen Bildagenten und Bildpublikum ausgetragen wurden. Sie entzündeten sich meist an der Frage nach der Wahrheit der Bilder, hinter der sich aber oft nur die Interessen jener verbargen, die an den Hebeln der Bildproduktion saßen. Repräsentationsfragen werden im Raum der Betrachter ausgetragen. Der kollektive Akt der Wahrnehmung, bei dem es selten ohne Konflikte abging, fand vor den Bildern statt. Träume und Visionen, in denen einzelne Personen ihre eigenen Bilder mitteilten, waren gleichsam der Ausdruck von Grenzkonflikten zwischen Subjekt und öffentlichen Bildern. Konflikte um Bilder gehören zur Praxis der Aufklärung über Bilder, die heute notwendiger ist denn je.

Bilder können beides: Sie können uns zu jener Freiheit und Autonomie ermutigen, über die wir nur in unserer Imagination verfügen, und sie können uns, umgekehrt, auch die Imagination rauben, durch Manipulation und Illusionstechniken, gegen die wir wehrlos sind. Deshalb ist die viel zitierte Klage über Bilderflut oder Bilderverlust scheinheilig. Denn Bilder sind immer nur das, was wir mit ihnen machen oder an ihnen wahrnehmen.

(aus: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S.354f.)

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