Der Altägyptische Iconic Turn
Sie entwickelt sich von einem relativ geschlossenen zu einem offenen System. Die traditionelle Hieroglyphenschrift basiert wie die aus ihr entwickelte Kursivschrift auf einem Grundbestand von zirka 700 Hieroglyphen. Im Gegensatz zur Kursivschrift aber ist die Hieroglyphenschrift grundsätzlich ein offenes System, das heißt es können ständig, wenn auch natürlich innerhalb vernünftiger Grenzen, neue Zeichen eingeführt werden. So kann man zum Beispiel ab dem Neuen Reich den Laut n statt mit der Wasserlinie (von n.t, Flut) auch mit der unterägyptischen Krone (mit dem gleichen Lautwert n.t) schreiben (Abb.), und es gibt sogar Rätselinschriften, die mit möglichst vielen ungewöhnlichen Zeichen operieren. Das funktioniert in der Kursivschrift nicht, denn die neuen Zeichen sind nur aufgrund ihrer Bildlichkeit, über die Dinge, die sie darstellen, lesbar. Diese in der Hieroglyphenschrift nur als Möglichkeit angelegte Offenheit des Systems wird nun in der Spätzeit systematisch genutzt. Jetzt treten das Zeichenrepertoire der Kursivschrift und das der Hieroglyphenschrift drastisch auseinander, in einem Verhältnis von 1:10. In dieser Zeit schrieb man demotisch, eine Kursive, die jede Bildlichkeit abgestreift hat, und umso intensiver kultiviert man die Bildlichkeit in der Hieroglyphenschrift.
Kraft ihrer Bildlichkeit bezieht sich die Hieroglyphenschrift nicht nur auf Gedanken und Begriffe, sondern auf konkrete Dinge dieser Welt. Sie bezieht sich also auf Laute, Begriffe und auf die Welt. Die Kursivschrift hat den Weltbezug dann abgestreift. Und die spätägyptische Hieroglyphenschrift hat ihn umso mehr wieder kultiviert. Bei letzterer kam es offenbar darauf an, den Zeichenbestand so weit zu vermehren, dass er praktisch mit dem Bestand der Dinge, der sichtbaren Formenwelt übereinstimmte. So wie die Gesamtheit der Schriftzeichen einen orbis pictus, ein Formenrepertoire der Dinge dieser Welt bildete, so bildete umgekehrt die Welt mit ihren Dingen ein Vorlagenrepertoire der Hieroglyphen. Genau diese Vorstellung von einer natürlichen Schrift oder Dingschrift war es, die man in der Renaissance mit der ägyptischen Hieroglyphenschrift verband.
Tatsächlich gibt es aus der ägyptischen Spätzeit Texte, die diese Einschätzung der Schrift zum Ausdruck bringen. Dazu gehört in erster Linie das Denkmal memphitischer Theologie. In diesem Text geht es um die Konzeption einer Schöpfung durch das Wort, die sich aber bei genauerem Hinsehen als Schöpfung durch die Schrift erweist. Dreimal ist in diesem Schöpfungsbericht von Hieroglyphen die Rede:
Es entstanden aber alle Hieroglyphen durch das, was vom Herzen erdacht und von der Zunge befohlen wurde (...)
Und so war Ptah zufrieden, nachdem er alle Dinge erschaffen hatte und alle Hieroglyphen. (...)
Es entstanden aber alle Hieroglyphen durch das, was vom Herzen erdacht und von der Zunge befohlen wurde.
Alle Dinge und alle Hieroglyphen - das soll doch soviel heißen wie die Formen der Natur und ihre Wiedergabe als Schriftzeichen, also res et signa. Das Herz ersinnt die Formen (signa), die Zunge vokalisiert sie als verba und kraft der göttlichen Schöpferkraft realisieren sich die Worte in der entstehenden Erscheinungswelt als Dinge (res). Die signa der Hieroglyphenschrift stehen vermittelnd zwischen res und verba. Nach Lesart dieser Schöpfungslehre aber steht die signa am Anfang: signa im Herzen des Schöpfers, verba durch seine Zunge, res in der äußeren Welt.
Der Gott, um den es hier geht, ist der Gott der Künstler und Handwerker, also jenes Ressorts, zu dem zwar nicht die Schrift als solche, aber die Hieroglyphenschrift gehört. Zur Entstehung des Weltalls trägt er durch das Ersinnen der Formen bei. Diese Formen konstituieren sich als eine innere Schrift im Herzen, die dann durch die sprechende Zunge vokalisiert und in die sichtbare Erscheinungswelt überführt wird. Die Schöpfung ist ein Akt der Artikulation: gedanklich, ikonisch und phonetisch.
Die Hieroglyphen sind die Urbilder der Dinge, welche die Gesamtheit der Wirklichkeit ausmachen. Indem Ptah die Urbilder der Dinge konzipierte, erfand er zugleich mit ihnen auch die Schrift, die Thot nur aufzuzeichnen braucht, so wie er als Zunge die Gedanken des Herzens nur aussprechen muss. Ein Onomastikon, das heißt eine nach Sachgruppen geordnete Wortliste, ist daher überschrieben als Auflistung »aller Dinge, die Ptah geschaffen und Thoth niedergeschrieben hat«.
Die Kursivschrift dagegen, die auf die Ikonizität, die Wiedererkennbarkeit abgebildeter Gegenstände verzichtet und nur auf Grund der Verwendung eines geschlossenen Bestandes abgegrenzter Zeichen funktioniert, kann weder neue Zeichen einführen noch bestehende Zeichen spielerisch variieren. Bildlichkeit und Systemoffenheit gehören zusammen. In den klassischen Schriftperioden ist diese Offenheit zwar immer noch latent als Möglichkeit vorhanden, doch wird sie erst in der Endphase der ägyptischen Schriftgeschichte in großem Stil aktualisiert. Der griechische und, darauf aufbauend, der gesamte abendländische Hieroglyphendiskurs knüpfen genau an diese Spätphase an.
In dieser Zeit verwischt sich in der Hieroglyphenschrift der Unterschied zwischen Schrift und Ikonographie. Gleichzeitig verschärft sich der Unterschied zwischen Hieroglyphen und Kursiver, ikonischer und anikonischer Schrift.
In dieser Zeit, als sich Hieroglyphen und Kursivschrift weit auseinander entwickelten und zur hieratischen Kursive noch das Demotische hinzutrat, muss die Idee einer Symbolschrift und mit ihr der Hieroglyphendiskurs entstanden sein. Also nicht erst in Griechenland, in Ägypten selbst schlägt meines Erachtens die Geburtsstunde des abendländischen Hieroglyphendiskurses, der ja,wie wir sahen, auf genau diesem Unterschied zwischen Bilderschrift und abstrakter Schrift beruht. Gerade die Mehrschriftigkeit und der Unterschied zwischen den verschiedenen Schriftsystemen waren es, die die Griechen an der ägyptischen Schriftkultur besonders faszinierten. Daher sind wir, wenn wir über die Fragen der Bildlichkeit und der Schriftlichkeit, der aus sich selbst heraus verständlichen und der beliebigen Zeichen, der unmittelbaren und der mittelbaren Bezeichnung nachdenken, die Erben der Ägypter. Die Ägypter haben diese Unterschiede und Unterscheidungen in ihren erst zwei, dann drei verschiedenen Schriftsystemen praktiziert, die Griechen haben sie theoretisiert, und das Abendland hat sie diskutiert, bis heute, wo wir über die Wende oder Rückwende von der Sprachlichkeit zur Bildlichkeit nachdenken.
(aus: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S.318-322)