Auf der Suche nach Bildern
Sehen wir uns doch nur einmal die Verweildauer des Bildermachers vor dem Bild an. Wie lange hat man einst gebraucht, um vor Ort eine Zeichnung anzufertigen, nach der man später einen Kupferstich für ein Reisebuch angefertigt hat? Wie lange haben die ersten reisenden Fotografen gebraucht, um ihre schweren Kameras aufzubauen, das Tuch über den Kopf zu ziehen und ihre Platte zu belichten? Wie schnell ging dann schon das Fotografieren mit der Kleinbildkamera, und um wie viel schneller wurde das Fotografieren dann noch durch das Automatisieren der Kameras! Mit der Digitalisierung ist nun alles nochmals viel schneller geworden.
Man könnte auch sagen, dass wir nun die Verweildauer umkehren und die Zeit sozusagen negativ besetzen können. Auf dem digitalen Apparat kannich das Bild ungeschehenmachen, indem ich auf »delete« drücke und das Bild lösche. Der Akt des Fotografierens hat dann gar nicht stattgefunden, wir waren nicht da, und wir haben auch nichts gesehen.
Das Suchen im Sinne von »Be-Suchen« der Bilder findet immer weniger statt. Peter Handke zitiert hierzu einen Satz von Cézanne: »Die Dinge verschwinden. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will«. Ist das Fotografieren eine mögliche Antwort auf dieses Verschwinden der Dinge? Mit Sicherheit war die Malerei seit Cézanne eine fortwährende Antwort darauf.
Und entsprechend konnte man die Fotografie und das Kino auch als Erfindungen zur »Rettung der physischen Erscheinung der Dinge« deuten, wie das Bela Balasz getan hat. Gleichzeitig haben beide aber auch ihrerseits in erheblichem Maß zum Verschwinden der Dinge beigetragen.
Wann ist etwas sichtbar? Nur, wenn dabei etwas wahr-genommen wird. Den Begriff der Wahrheit kann man offensichtlich nicht »aus den Augen lassen«, so wie Schönheit bekanntlich »in the eye of the beholder«, also im Ermessen des Schauenden, liegt. Die Aussage Cézannes, dass man sich beeilen muss, um die verschwindenden Dinge noch zu sehen, enthält bereits einen Verweis auf den Sehenden, der sich gefälligst beeilen soll. Will der Sehende überhaupt noch sehen? Kann er noch sehen? Wenn entweder das Ding oder der Blick des Sehenden beliebig geworden sind, und wenn nicht mehr die Ruhe einer Einheit zwischen Schauendem und Geschautem, sondern Gehetztheit und Austauschbarkeit herrschen, dann hat Cézanne mit seiner Befürchtung Recht. Dann gibt es die Dinge bald nicht mehr, und auch nicht den Betrachter, zumindest nicht als einen, der die Dinge wahr-nimmt. In unserer heutigen Kultur wird nicht mehr so viel gesehen, eher immer mehr bewertet, ver-wertet, begutachet, beurteilt, abgetan oder im besten Falle für interessant befunden und goutiert. Im Konsumzeitalter ist das Sehen aus der Mode gekommen.
Das ist zunächst einmal nicht wertend gemeint.
Was bedeutet nun das Verschwinden der Dinge für das Medium Film? Wie wirkt sich das aus? Was ist es überhaupt, das einen Film antreibt? Was ist der Motor eines Films, seine Seele? Was verleiht ihm die Kraft, sowohl das Geld anzuziehen, das zu seiner Herstellung nötig ist, als auch den Regisseur, die Schauspieler und all die anderen Beteiligten dazu zu motivieren, in ihn Zeit zu investieren?
(...)
Der Ort ist bei den meisten Filmen nur Kulisse und damit das passivste Element der Filmarbeit. Ich halte das für grundfalsch und möchte den Orten gerne einen würdigeren Platz geben. Woher kommt mein Interesse für Orte? Ich reise viel. So viel, dass ich manchmal denke, dass dies mein eigentlicher Beruf ist: Reisender. Ich komme oft an Orte, an denen ich vorher nie war, oder an Orte, die ich lange Zeit nicht wieder gesehen habe. Ich sehe Städte, Straßen, Häuser. Ich sehe Menschen zur Arbeit gehen, Kinder von der Schule kommen oder spielen, Wohnblöcke, beleuchtete Fenster. Dahinter bewegen sich Schatten, oder es leuchtet blau von den Fernsehern.
(...)
Die Orte als ein ruhender Gegenpol im digitalen globalen Zeitalter sind da und bleiben da, nicht nur als Bild-Gegenstand, sondern auch als Bild-Geber, -Entwerfer, -Forderer, -Autoren. Sie bleiben, als Bindeglied zwischen Bildern und Geschichten.
Gerade an diesem kritischen Punkt, einem Schwachpunkt unserer heutigen Kultur, drohen Dinge selbstständig zu werden, die nicht selbstständig sein sollten. Bilder haben immer mehr die Tendenz, selbstständig sein zu wollen und sich gnadenlos auszubreiten und zu vermehren, auf Kosten des Wortes zum Beispiel, dessen Charme, Kunst und Macht gegenwärtig in Vergessenheit zu geraten droht.
In einem zukünftigen interdisziplinären Studiengang Bildwissenschaft plädiere ich jedenfalls für einen Vertreter des Orts-Sinns, einen Anwalt der Orte, der nicht nur ihren Standpunkt verteidigt, sondern auch ihre Rechte.
Wir werden sie brauchen, die Orte, um nicht orientierungslos zu werden und uns nicht tatsächlich für die Schöpfer der Welt zu halten.
(aus: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic-Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S.283f., 285f. und 301f.)