Das Bild in uns - Vom Bild zur Wahrnehmung
Das hieße dann aber auch,dass die Inhalte unseres Bewusstseins verteilte Erregungszustände sein müssen, die nicht an einem bestimmten Punkt oder in einem Konvergenzzentrum lokalisierbar sind. Dies impliziert nicht, dass Funktionen nicht lokalisiert sein können. Wenn bestimmte Areale zerstört werden, dann fallen Teilaspekte unserer bewussten Wahrnehmung aus (...) doch das Bewusstsein bleibt erhalten. Dies weist darauf hin, dass Verarbeitungsergebnisse, die in den einzelnen Gehirnrindenregionen erbracht werden, in vielfältigen Kombinationen zu einem Ganzen zusammen gebunden und bewusst werden können. Vermutlich erfolgt dies dadurch, dass die verschiedenen Gehirnrindenregionen und damit die in ihnen residierenden Zellen ihre Aktivitäten zeitlich koordinieren und auf diese Weise hochkomplexe, rasch wechselnde dynamische Muster erzeugen, welche das nicht weiter reduzierbare Substrat kognitiver Zustände und Inhalte sind.
Ziel dieses kurzen Ausflugs in die Neurobiologie war, das Gehirn als ein in hohem Maße aktives, auf sein eigenes Wissen zurückgreifendes, selbstreferentielles System vorzustellen, das auf der Basis der gespeicherten Information - genetischer ebenso wie im Laufe der biologischen Entwicklung erworbener - aus dem wenigen, was die Sinnessysteme zur Verfügung stellen, ein kohärentes Bild der Welt zusammensetzt. Das Gehirn entwirft Modelle der Welt, vergleicht dann die einlaufenden Signale mit diesen Modellen und
sucht nach den wahrscheinlichsten Lösungen. Diese müssen nicht unbedingt mit der physikalischen Realität übereinstimmen - und tun dies in vielen Fällen auch nicht -, denn es kommt vorwiegend darauf an, die Variablen zu bewerten, die für das Verhalten relevant und für das Überleben dienlich sind. Es ist wichtig, dabei so schnell wie möglich zu sein. Unsere Kognition fußt also auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Inferenzen. Das Faszinierende dabei ist, dass wir das Ergebnis dieses interpretativen Aktes für die Wirklichkeit nehmen. Wir merken nicht, dass wir konstruieren, sondern wir glauben, dass wir abbilden. Es ist dies eine der vielen Illusionen, denen wir erliegen.
Eine weitere betrifft die Vorstellung, dass wir im Gehirn ein Kommandozentrum haben, in dem das Ich residiert und wertet, entscheidet und befiehlt. Stattdessen müssen wir uns das Ich als einen räumlich verteilten, sich selbst organisierenden Zustand denken - was weder attraktiv erscheint noch leicht fällt. Hinzu kommt unser zunehmendes Unbehagen angesichts der Inkompatibilität zwischen unserer Selbsterfahrung und dem naturwissenschaftlichen Bild von uns. Subjektiv erfahren wir uns als autonome, mentale, mit einem freien Willen ausgestattete Handelnde, die selbst entscheiden, was sie tun wollen, und diese Entscheidung dann in neuronale Aktivität umsetzen, damit dann auch das geschieht, was sie tun wollen. Diese Sicht ist immer weniger vereinbar mit den Ergebnissen neurobiologischer Forschung.
Wir leben also parallel in zwei Welten. In der einen, der subjektiv erfahrenen, nehmen wir unsere Wahrnehmungen für die Realität und merken nicht, dass wir konstruieren - vermuten unser Ich an einem singulären Ort und trauen ihm zu, frei schalten und walten zu können. Aus neurobiologischer Perspektive hingegen müssen wir erkennen, dass diese Annahmen und Vorstellungen in hohem Maße unplausibel sind. Die Zukunft wird zeigen, wie sich diese Einsichten auf unser Selbstbild auswirken werden. Vielleicht werden wir uns einfach an die Widersprüche gewöhnen, so wie wir uns an die Inkompatibilität gewöhnt haben, dass uns die Sonne im Osten aufgeht, während wir wissen, dass sich die Erde unter ihr hindurch dreht. Diese Dissoziation macht uns anscheinend keine Probleme. Die beiden Beschreibungen erfüllen komplementäre Funktionen. Das eine nutzt der Literatur, das andere den Raketenbauern. Nicht hinnehmen aber werden wir die Erfahrung, dass wir auch mit Bildern getäuscht werden können. Dies wird unser Zutrauen zu Bildern nachhaltiger erschüttern, als es Zweifel an unserer eigenen Wahrnehmung je vermögen.
(aus: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S.56-76)