Die Einheit der Kunst und die Vielfalt der Bilder
Nicht minder gilt dies für die historische Bildforschung mit der Folge, dass wir heute kaum noch in der Lage sind, das neuzeitliche Bildaufkommen in seiner Gesamtheit zu überblicken und uns theoretisch wie praktisch davon eine adäquate Vorstellung zu machen. Während ein begrenzter Kanon von Kunstwerken über lange Zeit die ungeteilte Aufmerksamkeit von Professoren und Studenten erhielt, waren es immer nur einige wenige Spezialisten, die sich über alle Fachbereiche der Geisteswissenschaften verstreut jener Mehrheit von Bildern zuwandten, die durch den Rost der Kunstgeschichte fielen. Ein praktisches Handbuch zur historischen Bildforschung, in dem über den historischen Verlauf und die räumliche Verbreitung der geläufigsten Bildtypen und -funktionen, über ihre charakteristischen Merkmale und spezifischen Ausprägungen, ihre Leitthemen und Motive sowie ihre wichtigsten Vertreter, nachzuschlagen wäre, gibt es nicht.
Wir würden uns einer Illusion hingeben, wenn wir glaubten, wir könnten Kunstgeschichte wie bisher lehren und zusätzlich Bildforschung betreiben. Anstatt einer fortwährenden Einverleibung neuer Materien auf Kosten des bestehenden Wissens, sei für eine konzeptionelle Neuorientierung der Kunstgeschichte im Sinne eines neuen Systems der Bildwissenschaft plädiert. Durch die Herabstufung der Architekturgeschichte zu einem stilkundlichen Propädeutikum würde die Skulptur ihre bisherige Bindegliedfunktion einbüßen und zu einem Eckpfeiler des neuen Systems werden, wie es ihrer Nähe zur dreidimensionalen Welt der Dinge einschließlich der Realien einer neuen Objektkunst entspräche. Die Malerei, genauer das zweidimensionale Bild, würde in die Mitte nachrücken und so in den Rang einer Kerndisziplin der neuen bildorientierten Geschichtswissenschaft gehoben. An Stelle der bisherigen Hegemonie des Tafelbildes träte eine breit gefächerte Typologie des Bildes, wie wir sie in Ansätzen etwa von Dagobert Frey, Wolfgang Brückner, Hans Belting und neuerdings Klaus Sachs-Hombach her kennen.
Nach der anderen Seite hin könnte sich das neue System jenen Bildformen gegenüber öffnen, die bislang aus dem System der Künste ausgeschlossen waren. Den freigewordenen Platz würden mithin jene Bereiche belegen, die in einem Nahverhältnis zur Sphäre des Buches bzw. der angewandten Kunst stehen, darunter vermehrt funktionale und bewegliche Bildträger. Der Hauptakzent einer solchen Bildwissenschaft sollte nicht etwa auf einer reinen Typenlehre, sondern mehr noch auf dem Austausch und die Verschiebungen zwischen den verschiedenen Bildgattungen und -funktionen liegen. Nicht auf das angebliche Wesen des Bildes käme es dabei an, sondern auf seine Fähigkeit zur Expansion und Transgression.
Bilder wären kein intelligentes Medium, wenn sie auf dem beharren würden, was sie angeblich sind. Besteht doch deren raison d'être gerade im Gegenteil darin, dass sie mögliche Grenzen ausloten, in andere Wissensfelder eindringen und so letztlich über sich hinaus verweisen. Aufgabe einer künftigen Bildwissenschaft kann es demnach nicht sein, ängstlich an irgendwelchen selbst gesetzten terminologischen Grenzen zu verharren.Ihr obläge es im Gegenteil, den Ausprägungen von Bildlichkeit auch bis in die entferntesten Winkel nachzuspüren.
Schon 1995 vertrat James Elkins die Auffassung, dass es gute Gründe gebe, die Kunstgeschichte als Teildisziplin einer allgemeinen Geschichte des Bildes zu betrachten, umso mehr als "nonart images" oftmals komplexere Probleme der Repräsentation und Rezeption aufwerfen, als dies bei herkömmlichen Kunstwerken der Fall sei. Tatsächlich entspricht das von uns anskizzierte Modell einer historischen Bildwissenschaft bereits jetzt in hohem Maße den gegebenen Verhältnissen und damit auch den vorhandenen Möglichkeiten. Gibt es doch in den meisten Städten seit langem zwei, drei, ja bisweilen sogar vier Lehrstühle für Kunstgeschichte: einen an der Universität, einen anderen an der Kunstakademie und einen dritten an der jeweiligen technischen Universität oder Fachhochschule. Was zunächst als sinnlose Mehrfachbesetzung erscheint, ist de facto der Beleg dafür, dass die Trennung der Bereiche Bild, Architektur und Kunst praktisch längst vollzogen ist. Während bereits jetzt Architekturgeschichte zu einem hohen Grad von den technischen Hochschulen betreut und an den Kunstakademien eine sich am Begriff des Ready-Made und der Optik der Wunderkammern orientierende ästhetische Realienkunde unterrichtet wird, wäre es eigentlich nur ein folgerichtiger Schritt, wenn die Kunstgeschichte an den Universitäten daraus die Konsequenzen zöge und die Herausforderung annähme, als Dachdisziplin einer neuen historischen Bildwissenschaft zu fungieren. Wenn es gelänge, die Architektur aus dem System der bildenden Künste auszugliedern, würde sich die Kunstgeschichte von selbst als Bildwissenschaft konstituieren.
(Franz Reitinger ist Historiker mit dem Spezialgebiet Bildforschung, zuletzt erschienen)