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"We do History in the Morning and change it after lunch."

Seit der Erfindung von Fotografie, des Films, des Fernsehens und der Digitaltechnologien gestalten sich die Abhängigkeiten zunehmend komplex. Dies führt dazu, dass sich der Realität entnommene Bilder einerseits und künstlich geschaffene Bilder andererseits heute immer stärker ähneln, sich zum Teil auch überlagern oder ersetzen. Dies hat Konsequenzen für die Wahrnehmung des Betrachters. Zu seiner eigentlichen Aufgabe aber wird die genaue Unterscheidung von Bildqualitäten. Vielleicht war dieses Erkennen von Differenz schon immer die essentielle Aufgabe des Betrachters, doch mit der steigenden Anzahl von zu verarbeitenden Bildern (in der Alltagsrealität wie in der Kunst) ist diese Aufgabe zu einer neuen Herausforderung geworden.Als paradigmatisches Werk für den aktuellen Umgang mit Bildern soll einer der wichtigsten Beiträge der Documenta X (Kassel 1997) herangezogen werden: das 68-minütige Video Dial H-I-S-T-O-R-Y. Autor ist 1965 in Gent geboren, lebt in Belgien und New York. Sein Name: Johan Grimonprez.

Es wird schnell deutlich, dass die in diesem Film gezeigten Bilder nicht originär füreinander geschaffen sind und dass der Film eine raffinierte Verschränkung verschiedenster Bild-, Text-, Sprach- und Klang-Elemente ist, eine komplexe Collage aus Found-Footage- (also gefundenem) Material: Nachrichtenbilder, Wissenschaftsbilder, Trickfilmbilder, Textbilder, inszenierte (Spielfim-) Bilder usw. und dazu eine Musik, die das Ganze emotional und oft irritierend gegenläufig, kommentiert.

Bei seinem Vorgehen setzt der Künstler den Totalitätsanspruch der massenmedialen Bilder nicht außer Kraft. Vielmehr setzt er diesen Anspruch als Kind der ersten Fernsehgeneration auf bewusste Weise ein: er benutzt ihn. Er klinkt sich gewissermaßen in die Herrschaftsdomäne der Bilder ein und jongliert mit ihren Strategien. Dies wird deutlich, wenn man untersucht, welche Bilder der Künstler auswählt und welchen er eine besondere Aufmerksamkeit beimisst. Es sind bewusst solche Bilder, die den Betrachter instrumentalisieren, überwältigen, vereinnahmen, verstören: Action-Thriller, Live-Reportage, Propagandafilm. Bezeichnenderweise spielen Bilder aus der kommerziellen Werbung eine untergeordnete Rolle. Dial H-I-S-T-O-R-Y erzählt, mit welchen Bildern Geschichte festgehalten und überliefert wird, wie diese Techniken die Erinnerung beeinflussen, beschleunigen und multiplizieren und so zunehmend ein Übermaß an Geschichte erzeugen.

Grimonprez vergleicht sein Geschichts- und damit auch Bildverständnis mit der Auswahl von Waren in einem riesigen Supermarkt. Diese Auswahl ist immer von Interessen und Notwendigkeiten geleitet, von attraktiven Angeboten und Wünschen, die auf die Produkte projiziert werden (vom Hersteller wie vom Konsumenten). Wenn man, so Grimonprez, im Internet das Wort hijacking eingibt oder unter www.footage.net nachschaut, bekommt man so viele Informationen, dass man nicht weiß, wo anfangen. Man verliert sich in der auf Knopfdruck abrufbaren Geschichte. Die Orientierung muss der Einzelne selbst herstellen. Am Schluss von Dial H-I-S-T-O-R-Y wird es heißen: We do history in the morning and change it after lunch. Geschichte wird auf diese Weise als ein dehnbarer Begriff bezeichnet und erfahrbar, als eine flexible und vor allem manipulierbare Größe. Schon im Titel ist Geschichte als ein Wahlsystem von Bildern dargestellt, vergleichbar der Multiple-Choice-Technik automatischer Voice-Mail-Systeme.

Die Rolle des Betrachters schwankt bei Dial H-I-S-T-O-R-Y zwischen atemloser Spannung einerseits (= die U-Ebene, die Spielfilmhaltung, das gierige Aufsaugen von Sensationsmeldungen) und einer distanzierten Bewusstheit andererseits (= die E-Ebene, die Haltung, die man gegenüber einer Dokumentation einnimmt). Eine dritte, neue Variante des Rezeptionsverhaltens besteht im Selbstbetrug: nämlich dann, wenn die Betrachter wissen, dass Bilder lügen, sie diese Lügen aber trotzdem akzeptieren. (Werbung z. B. wird vom aufgeklärten Fernseh- oder Kinozuschauer als kommerzielle Vorführung des nicht zwangsläufig Wahren erkannt, dient aber dennoch als Instrument tatsächlichen Verhaltens in Alltagssituationen.) Deutlich, aber deshalb nicht besser kontrollierbar jongliert Grimonprez mit der Differenz der Bilder, der Bildebenen und Bildwahrheiten und lässt deren Wirkungsweisen raffiniert überlappen.

Das Kunstwerk ist sowohl Produkt einer geschichtlichen Konstellation als auch Gegenstand gegenwärtiger ästhetischer Erfahrung. In diesem Sinne ist eine Flexibilisierung unserer Geschichtsauffassung gefordert, die im Zeitalter der Medien mit einer Flexibilisierung der Bildbewertung korreliert. Die eigentümliche Zeit- und Bildstruktur, in die uns Dial H-I-S-T-O-R-Y hineinzieht, zwingt uns zum Denken in parallelen Geschichten. Und: sie zwingt uns auch zur Überprüfung unserer Wahrnehmungsmechanismen. Ebenso wie die äußere Anreicherung, die ein Werk durch Kontextualisierung, Verschriftlichung und Rezeption erfährt, muss hier auch die komplexe innere Bild-Struktur als integraler Bestandteil aufgefasst werden. Erst so kann die Zeitordnung, die jahrhundertelang vom Einfluss eines Kunstwerks ausging, umgedreht werden. Nun können die Aneignungsverhältnisse in den Blick gefasst werden, unter denen sich tatsächliche Aktualität konstituiert. Der Herrschaft der Bilder wird mit Dial H-I-S-T-O-R-Y in einer Weise gegenübergetreten, die dem Betrachter die Abhängigkeit von Bildern vorführt und ihn gleichzeitig von dieser Abhängigkeit befreit. Der Künstler entzieht sich, stellvertretend für den Betrachter, der Herrschaft der Bilder, indem er sie nach eigenem Empfinden und Rhythmus neu sampelt. Die vorübergehende Entleerung, die Enthierarchisierung von (Bild)Information aber ist die Chance für eine individuelle und freiheitliche Neubewertung der Bilder.

(Bernhart Schwenk ist Kurator für Gegenwartskunst an der Pinakothek der Moderne in München)

(Bildnachweis: Johan Grimonprez »dial H-I-S-T-0-R-Y«, 1997 | Filmstill | © Grimonprez, Johan)

Kunst, MedienB. Schwenk