Sokrates und der Bildbegriff
In platonischen Dialogen kommt es häufig zu folgender Situation. Sokrates bittet seinen Gesprächspartner, den Begriff x, um den es gerade geht, erst einmal zu definieren, er fragt ihn also: Was ist x? Der Partner antwortet, indem er eine Reihe von Beispielen angibt, also etwa: x ist z.B. a, b, und c, aber auch d, nicht zu vergessen e; damit ist Sokrates dann aber ganz und gar nicht zufrieden: Beispiele sind eben keine Definition.
So kann man sich auch leicht ausmalen, was passieren würde, wenn Sokrates hier und jetzt die Frage stellen würde: Was ist denn überhaupt ein Bild? Ich würde ihm nämlich, als angehender Bildwissenschaftler, nicht ohne Stolz antworten: Ja mein lieber Sokrates, da gibt es Bilder in Museen, darunter die falschen, besonders mächtigen, Bilder im Gehirn, Bildnisse in Melanesien, Bilder von Elementarteilchen, Wunsch- und Zerrbilder vom Menschen, insbesondere Bilder aus Abu Ghraïb, aber auch langsame Bilder, reale Bilder, fiktive Bilder, und last but not least Bilder in der Indianer-Mission. Sokrates würde sich dann zwar aufrichtig bemühen, seine tiefe Enttäuschung über meine Antwort zu verbergen. Aber irgendwann käme es doch heraus: Von mir als angehendem Bildwissenschaftler hatte er sich mehr versprochen als eine Reihe von Beispielen; er wollte eine Definition.
Eine Definition bestimmt einen Begriff in der Weise, dass sie zunächst die Gattung angibt, d.h. den Oberbegriff, unter den der Begriff zu subsumieren ist, und dann die spezifischen Differenzen, durch die sich der zu definierende Begriff von den übrigen Mitgliedern seiner Gattung unterscheidet. So jedenfalls bei Aristoteles.
In diesem Sinne möchte ich vorschlagen, als Gattungsbegriff für das Bild den Begriff des Mediums anzunehmen. Bilder sind Medien in dem Sinne, dass sie, wie andere Medien auch, etwas wiedergeben, was sie nicht selbst sind, selbstverständlich ohne dass in dieser Bestimmung irgendeine Vorentscheidung über den ontologischen Status des Wiedergegebenen impliziert. Allgemein gilt ja: Was etwas wiedergeben will, kann nicht selbst das sein, was es wiedergibt. Also sind Medien von dem, was sie wiedergeben, verschieden; und sobald Medien wahrgenommen werden, stehen sie gleichsam in der Mitte zwischen dem Wiedergegebenen und dem Wahrnehmenden: Auf eben diese Mittelstellung verweist ja, nebenbei, auch der Begriff des Mediums (medium = das Mittlere).
In dieser Mittelstellung des Mediums liegt, dass es notwendigerweise eine ihm eigene Beschaffenheit aufweist, durch die es sich von dem unterscheidet, was es wiedergibt. Das wiederum hat zur Folge, dass Medien niemals vollkommen transparent auf das Wiedergegebene sein können, dass sie sich vielmehr an irgendeiner Stelle selbst, d.h. in ihrer eigenen Beschaffenheit, ins Spiel bringen.
Dazu wäre noch viel zu sagen. Insbesondere wäre es interessant, die allgemeine Medientheorie Platons näher zu betrachten. Vor allem in einem Punkt möchte sich Platon von den nach seiner Meinung medientheoretisch naiven vorsokratischen Philosophen abheben: Er insistiert darauf, dass nicht etwa nur Sprache, Bild usw. medial verfasst sind, sondern genauso auch die mentalen Prozesse selbst: Auch sie sind nicht einfach die Sache, die sich in ihnen darstellt, sondern Medien der Sache, auch sie haben eine eigene Beschaffenheit, durch die sie sich notwendig von dem unterscheiden, was sie als die Sache darstellen.
Ich habe ja die sokratische Hausaufgabe erst zur Hälfte gelöst, indem ich für den Bildbegriff zwar einen Gattungsbegriff vorgeschlagen habe, den des Mediums, aber noch keine spezifische Differenz. Wenn denn Bilder Medien sind, wodurch unterscheiden sie sich dann von anderen Medien? Eine Bildwissenschaft kann die von ihr zu ihr zu fordernde Definition des Bildes nur dann vollständig liefern, wenn sie sich als vergleichende Medientheorie versteht, die die mediale Eigenart des Bildes in Abhebung von der medialen Eigenart anderer Medien bestimmt.
Wenigstens die Richtung, in der wir die Antwort zu suchen haben, ergibt sich zwanglos aus dem, was wir allgemein zu unserem Oberbegriff Medium bereits festgestellt haben: Medien, so sahen wir, weisen notwendig einen ihnen eigene Beschaffenheit auf, durch die sie sich von dem unterscheiden, was sie wiedergeben. Wir müssen nun nur noch den Schritt tun, festzustellen, dass sich die Medien eben kraft dieser ihrer eigenen Beschaffenheit auch voneinander unterscheiden: Jedes Medium stellt sich in spezifischer Weise zwischen das Wiedergegebene und den Wahrnehmenden.
(Oliver Primavesi ist Professor für griechische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Einsichten 2004)