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Der Betrachter ist nicht im Bild

Dass Beobachtung nicht ohne Beobachter möglich ist: eine Tautologie, die sich von selbst versteht.

Wenn sich Bild und Betrachter schon immer im selben Milieu befinden, weiß der Betrachter stets, wie er mit den Bildern umzugehen hat: ein Argument, das sich offensichtlich im Kreis dreht.

Dass es ohne Bilder keine Bildwahrnehmung, ohne Beobachter keine Interpretation und ohne Milieu keinen Platz gibt, an dem Betrachter und Bild sich begegnen: selbstverständliche Gemeinplätze, ebenso nichtssagend wie irreführend.

Im Einzelnen:

Was hat der Beobachter in der Bildwissenschaft verloren? Genügt es nicht, zuerst von Bildern auszugehen? Erfahren wir mehr über die Bilder, wenn wir einen Betrachter hinzudenken? Hilft es weiter, wenn wir zusätzlich zu den Bildern noch den Betrachter der Bilder betrachten?

Die Rezeptionsästhetik hat mit der Figur des Betrachters eine wissenschaftliche Fiktion hervorgebracht. Sie schaltet dadurch eine weitere Instanz zwischen das Wissen und die Bilder. Aber man benötigt den Betrachter so wenig für die Bildwissenschaft wie Leser oder Hörer für die Wissenschaften der Literatur oder der Musik. Bildwissenschaft könnte ebenso gut schlicht bei den Bildern beginnen und die Fiktion eines Betrachters beiseite lassen. Damit soll nicht behauptet werden, dass es den Betrachter nicht gibt. Sondern nur, dass er nicht dazu beiträgt, Bilder besser zu verstehen, geschweige denn am Ausgangspunkt einer Bildwissenschaft zu stehen hat. Eine betrachterzentrierte Bildwissenschaft ist nur eine von vielen Möglichen, Bilder zu untersuchen.

Die Figur des Betrachters führt ein strategisches Moment in die Begründung der Wissenschaft ein. Sie lenkt die Aufmerksamkeit von der Produktionszusammenhängen und den Technologien der Bilder ab, um Bilder allein von der Seite ihrer Rezeption her zu untersuchen. Damit verpflichtet sie die Wissenschaft auf bestimmte Fragen und blendet andere aus. Wie und warum Bilder gemacht werden, spielt aus der betrachterzentierten Perspektive eine nur untergeordnete Rolle. Ebenso die Frage, wie Technologien bestimmte Bildwelten hervorbringen und dadurch die Position des Betrachters erst festlegen. Zugleich verspricht die Fiktion des Betrachters eine falsche Autorität. Der Wissenschaftler, der sich anmaßt, als Betrachter zu agieren, hat das Bild schon immer verstanden und muss keine andere Ansicht zulassen, da er im Namen eines scheinbar selbstgewissen Betrachters zu sprechen vorgibt.

Die Idee, Betrachter und Bild befänden sich schon immer in einem gemeinsamen Milieu, gebraucht entweder einen nichtssagenden Begriff des \"Milieus\", oder sie widerspricht ganz offensichtlich der Erfahrung im Umgang mit Bildern. Zum Beispiel befinden sich Patient und Arzt in ein und demselben Milieu, wenn sie eine Computertomographie betrachten. Dennoch erkennt der Arzt im Bild eine Diagnose, der Patient dagegen nicht. (Harun Badakhshi hat diese Betrachterverhältnisse ausgiebig untersucht). Das Verhältnis betrifft nicht nur Bilder für Experten, sondern Bilder jeder Art. Ein Kunsthistoriker kann die Bedeutung eines Stillebens entschlüsseln, wo ein anderer Betrachter nur Gemüse sieht. Wer schon einmal in Phuket war, kann sich den Strand vorstellen, an den die Welle schlägt. Ein anderer Betrachter weiß nicht mehr als das, was die Bilder vom Tsunami gezeigt haben.

Ganz offensichtlich zeichnet es Bilder geradezu aus, unter sehr vielen Aspekten betrachtet werden zu können und auf verschiedene Betrachter ganz unterschiedlich zu wirken. Die These von der Einheitlichkeit des Milieu entspricht der fixen Idee, Bilder aus der Perspektive eines Betrachters sehen zu wollen. Sie setzt den Unsinn der ersten Annahme fort, indem sie versucht, eine homogene Fiktion eines Betrachters zu konstruieren, den es in Wirklichkeit nicht gibt.

Weder die Wahrnehmung von Bildern, noch die Betrachter von Bildern, noch das Milieu der Betrachter taugen als alleinige Ausgangspunkte einer Bildwissenschaft. Sie stellen vielmehr mögliche Ansätze weiterer Forschungen dar. Gegenstand und Ausgangspunkt der Bildwissenschaft kann jedoch nur das Bild sein.