Bildwissenschaft? Eine Zwischenbilanz
Entsprechend eines Verständnisses von Bildpraktiken als Kulturpraktiken (bzw. –techniken) stand die Tagung unter der Prämisse, das Thema der Bilder in die Kulturwissenschaften einzuführen. Sekundiert wurde diese Forderung von dem in Wien nicht anwesenden Horst Bredekamp, der in seinem ZEIT-Interview vom 6. April 2005 die zentrale Forderung nach Bildforschung für das Unternehmen Bildwissenschaft hervorgehoben und dabei auf die unverzichtbare Rolle von Kunstgeschichte und Archäologie hingewiesen hat. Vertreter aus Kunst- und Kulturwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte, Literaturwissenschaften und Philosophie – darunter mit Gottfried Boehm (iconic turn) und W. J. T. Mitchell (pictorial turn) zwei Namensgeber der als Paradigmenwechsel verstandenen Wendung zum Bildlichen – folgten Beltings Einladung, sich den Bilden über die Bildpraxis zu nähern.
Bildproduktion als eine Kulturtechnik neben anderen Kulturtechniken behandelte Thomas Machos Vortrag. In ihrer Rekursivität sind Kulturtechniken unterschieden von Tätigkeiten, die sich nicht selbst zum Thema machen können. „Bilden“ hat als Ergebnis immer ein Ding, ein Objekt, ein Artefakt. Kulturtechniken erzeugen also auch immer Medien als Träger von Bildern. Im Sinne Foucaults stehen Kulturtechniken für den Übergang von Selbstreferentialität zur Selbsterzeugung. Thomas Machos Beispiel von Handabdrücken in Kulthöhlen des Paläolithikums führte in der Diskussion zur wichtigen Unterscheidung des Indexikalischen vom Ikonischen.
Eine Tendenz, das Ikonische hinter sich zu lassen machte Christiane Kruse (Vortrag: Nach dem Bild. Der Einstieg in das postikonische Zeitalter) in einzelnen Beiträgen des von Hubert Burda und Christa Maar herausgegebenen Bandes Iconic Turn. Die Neue Macht der Bilder (2004) aus. Natur nicht nur zu verdoppeln, sondern sie zu überbieten bzw. zu übersteigen, lässt sich als post-ikonische Herangehensweise verstehen. Horst Wenzel hob in der Diskussion die mit dem Bild verbundene Imaginationsleistung hervor, die das materielle Bild transzendiert. In der Verbindung von Imagination und Technikgeschichte sieht Christiane Kruse einen endgültigen Ausweg vor der Enttäuschung durch die Bilder, da ein „lebendiges“ Bild machbar ist, was aber konsequenterweise gar kein Bild mehr sein kann.
W. J. T. Mitchell aus Chicago (Vortrag: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images) stellte als keynote-speaker am ersten Abend sein demnächst erscheinendes Buch What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images vor. Entgegen dem traditionellen Focus auf Bedeutung und Wirkungsmacht der Bilder führte er den Begriff des Eigenlebens der Bilder ein, wenn man „life of pictures“ so verstehen darf. Nicht was Bilder bedeuten, nicht was sie tun, sondern was sie wollen, fragte Mitchell. Mit dieser Umwidmung rief er zu einem Wechsel von der semiotischen und hermeneutischen Perspektive zu einer poetologischen Perspektive auf. Der Gedanke eines Eigenlebens der Bilder ist aber so alt wie die Bilder selbst. Ein doppelbödiges Bewusstsein von den Bildern durchzieht so auch noch den heutigen Bild-Diskurs. Selbst neueste Bildtechniken können einem animistischen Glauben an das Bild (wie er beispielsweise im respektvollen Verständnis der Eltern beim Spiel ihrer Kinder mit Puppen zum Ausdruck kommt) nichts anhaben. Bildern ein Eigenleben zuzusprechen meint, ihnen mehr als die Intentionen ihres Autors zuzubilligen.
Nach Horst Wenzel (Vortrag: Zur Narrativik der Bilder und zur Bildhaftigkeit der Literatur. Plädoyer für eine Text-Bildwissenschaft) entspringt die Polarisierung von Text und Bild einem genuin neuzeitlichen Verständnis, bestand aber so nicht in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ältere Kombinationsmöglichkeiten von Text und Bild sowie auf einer Metaebene die kombinatorische Vielfalt der Verbindung Text/Bild in sprachlichen Imaginationsstrategien und bei der Verbildlichung geistiger Entwürfe hat ihre heutige Entsprechung in der Durchlässigkeit traditioneller Fachgrenzen von Literaturwissenschaften und Kunstwissenschaft. Gottfried Boehm machte auf die Schlussfolgerungen für eine Bildreflexion aufmerksam. Die Sprachentleerung des Bildlichen ist demnach ein „Fortschritt“ der Moderne. Einen weiteren Diskussionspunkt bot die Rede von den „inneren Bildern“. Das „Innere Bild“, im Vortrag Wenzels zwischen „Vorstellung“ und „Bild“ changierend, bleibt nach wie vor ein „schwarzes Loch“, so Gottfried Boehm. Hans Dieter Huber stellte in der weiteren Diskussion in Frage, ob für „innere Bilder“ der Begriff „Bild“ überhaupt gerechtfertigt sei. Für die Schnittstelle von Innen und Außen müsste vielleicht eine ganz andere Begrifflichkeit gewählt werden. Als problematische Metapher bleibt das „innere Bild“ wichtiges Thema für eine zu konstituierende Bildwissenschaft.
Klaus Krüger (Vortrag: Das Bild als Palimpsest) stellte den in kultur- und literaturhistorischen Diskursen bereits fruchtbar gemachten Begriff des „Palimpsests“ in den Mittelpunkt seines Vortrags. Als operatives Modell vorgestellt, kann er zur Beschreibung und Analyse interpikturaler und intermedialer Bildverfahren eingesetzt werden. Aus der Paläographie kommend und die Neubenutzung eines Schriftträgers bezeichnend, dessen alte Beschriftung entfernt und dann überschrieben wird, kommt das Palimpsest-Modell der charakteristischen Schichtung und Veflechtung heterogener Bestandteile von Bildlichkeit nahe. In einer solchen mehrfachen Schichtung kommt es aber nicht zur Verdrängung oder zu einer bloßen Abfolge, sondern zu einer Koexistenz. Als ein „Artikulationsmittel des Unbegreifens und Vorbegreifens“ (Hans Blumenberg) ist das seinerseits bereits metaphorisch aufgeladene Palimpsestmodell nicht in die eigentliche Rede von Begrifflichkeiten übersetzbar. Klaus Krüger machte auch auf die Anschlussfähigkeit an andere Begriffe wie den des Fragments aufmerksam. Betonung fand schließlich das Anliegen, keinen neuen Begriff postulieren zu wollen, sondern in Entsprechung zur besonderen Struktur von Bildlichkeit ein begriffliches Denkmodell einzuführen, welches fruchtbar für eine Bildwissenschaft gemacht werden kann. Als Ausgangspunkt für eine begriffliche Fundierung von Bildwissenschaft kann die Diskussion um das Palimpsest-Modell als Hinweis auf die Problematik angesehen werden, der sich jede Bildwissenschaft im Rekurs auf eine teils medienfremde Begrifflichkeit, etwa aus dem bereich der rhetorischen Begrifflichkeit, ausgesetzt sieht. Beat Wyss schließlich plädierte für einen methodischen Gebrauch des Begriffs, nicht als Angelegenheit des Objekts, sondern als Haltung des Betrachters.
Martin Schulz (Vortag: dlose Entlarvung der Bilder) konnte in der Analyse der Eingangssequenz von Michael Moores Film „Fahrenheit 9/11“ auf die Problematik von ursprünglicher Präsenz und ihrer Repräsenz im Bild aufmerksam machen. In den entlarvenden Fernsehbildern des amerikanischen Präsidenten vor der Ansprache zu Beginn des letzten Golf-Krieges entlarven sich die Bilder selbst als Bilder, geben sich als Repräsentationen von Repräsentationen zu erkennen. Zentral für eine Bildwissenschaft, kann anhand des Beispiels die Frage nach dem Beginn und dem Ende der Bilder gestellt werden. Bilder sind vielfach bereits Bilder, ehe sie zu Bildern werden.
Beat Wyss´ (Vortrag: Die Nachträglichkeit der Bilder) Vorschlag einer Fruchtbarmachung der Traumtheorie Sigmund Freuds für die Bildwissenschaft breitete einen diskursanalytischen Vergleich mit Aby Warburgs „Pathosformeln“ und dem Renaissance-Begriff Erwin Panofskys aus. Erinnerungsspuren, die aufgrund späterer Erfahrungen in steter Neu-Ordnung sich befinden und in Übereinanderschichtung zu denken sind, lassen sich mit der Wiederaufnahme historischer Bildformeln vergleichen, die vergleichbar der traumatischen Erinnerung des „Wolfsmanns“ ist, in der die Spur einer anthropologisch kodierten Erfahrung als alte Leerformel nachträglich mit neuer Bedeutung aufgeladen wird.
Die Anwendungsmöglichkeiten einer systemischen Bildwissenschaft stellte Hans Dieter Huber (Vortrag: Visuelle Musik in der Erlebnisgesellschaft) anhand des Phänomens der „Visual Music“ vor. Innerhalb der Klub-Kultur der 90er Jahre entwickelte sich parallel zum Discjockey der Videojockey und die Videojane, die Techno, House und Electronic Music rhythmisch visualisieren. In der Unterscheidung von Bild, BeobachterIn und Milieu ergeben sich unterschiedlichen Herangehensweisen in den Bereichen von Bildinterpretation, der Wahrnehmung und Rezeption und im Bereich der sozialen Erlebnisräume, in denen Bilder auf je unterschiedliche, aber sinnstiftende Weise aufeinander treffen.
Gottfried Boehm (Vortrag: Das Paradigma „Bild“. Zur Tragweite der ikonischen Episteme) schlug in seinem Vortrag einen die verschiedenen Beiträge der Tagung zusammenfassenden Bogen. Den künstlichen Begriff der Episteme seines Titels wählte er, um so den „inhaltsleeren“ Begriff von Bildwissenschaft zu präzisieren. Handelt es sich bei „Bildwissenschaft“ doch nach wie vor um eine offene Baustelle und der Anspruch, der im Namen steckt, hüllt den Gegenstand noch immer ein. Boehms Vorschlag ist es wie, den Begriff der Bildwissenschaft mit dem der Bildkritik zu füllen. Als Anfangsfragen einer ikonischen Episteme stehen ihm zufolge: was ist ein Bild und wann ist ein Bild? Anstelle allgemein semiotischer Ansätze für eine Bildwissenschaft, vor denen Boehm warnte, schlug er vor, eine Lexikonsammlung charakteristischer Figuren bildlicher Repräsentation zu sammeln, eine Metaphorologie, für die Klaus Krüger mit seinem Vortrag zum Modell des Palimpsestes, ein Beispiel gegeben hat. Im Überblick bewertete Boehm eine solche Sammlung mit vergleichbaren Begriffen wie Maske, Spur, Geste, Blick, Schleier, Spiegel, etc. als wichtigen Ansatz für eine Bildwissenschaft.
Der Figur des „turns“ in der Rede vom pictorial turn und des iconic turn als Ansatz eines neuen Wissenschaftsmodells ging Boehm in folgenden nach. Die Namensgebung des linguistic turn durch Richard Rorty beschrieb ein Modell, in dem Erkenntnis nur auf der Grundlage lingualer Sprache möglich erschien. Eine ikonische Wissenschaft ist darin aber unmöglich. Eine Begründungsschwäche dieses Erkenntnismodells besteht darin, dass man aber Sprache nicht auf Sprache zurückführen kann. Dagegen erscheinen basale Zusammenhänge als Grundlage von Sprachlichkeit, unter denen dem „Zeigen“ (Verweis auf die Bedeutung von „dicere“ als „zeigen“ und „sagen“, so Prof. Wenzel) besondere Bedeutung zukommt. Wenn aber Sprache auf nicht-lingualem Sinn beruht, dann mündet der lingustic turn“ notwendigerweise in einen iconic turn. Die Frage „Was ist ein Bild?“ stellt sich dann aber in einem ganz bedeutendem Sinne als eine wichtige Frage heraus. Erkenntnis ohne Bezug oder Einschluss des Ikonischen bleibt defizitär.
Die Tatsache nun, daß Bilder impliziertes Wissen beinhalten, ist keine Neuigkeit. Diesen Zusammenhang jedoch als eine Wissensform zu begründen, ist das neue Thema, des pictorial turns/iconic turns. Dabei greift Boehm zufolge die Anerkennung eines solchen Wissensmodells eine der ältesten Grundsätze der abendländischen Wissenschaften an. Dem „Sagen“ wird ein „Zeigen“ entgegengesetzt, an die Seite gestellt. Grundlage beider bleibt jedoch die Darstellungsabhängigkeit allen Erkennens. Für eine Bildwissenschaft geht es somit um eine Kritik der impliziten Erkenntnisformen. In diesem Sinne ist Bildwissenschaft Bildkritik. Sie handelt von der Logik des „Zeigens“, die sich als eine fruchtbare Arbeitsbasis für Bildwissenschaft empfiehlt. Die Eigenart des Bildlichen ist nicht – wie so oft behandelt – ontologisch, sondern auf Differentsetzung beruhend, die sich in Differenz zu Wort und Klang setzt. Die Logik des Zeigens, so Boehm, spezifiziert sich in jedem Bild. Sie arbeitet mit Unbestimmtheit und Intensität, was als ikonische Differenz beschrieben werden kann. Signum von Bildern ist jedoch auch die Bindung von Sinn an eine Materialität, was wiederum die Singularität/Konkretion des Bildes betrifft. Als die Extraleistung des Bildes bestimmte Boehm das Imaginäre, das „surplus“ des Bildes.
jlb
(Tagung des Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften Wien vom 21. bis 23. April 2005)