Wie japanisch ist die japanische Fotografie?
„Wer bin ich, als Fotograf und als Japaner?“ In den Jahren nach Kriegsende wurde die Suche nach der eigenen Identität zur zentralen Frage für japanische Fotografen. Die Bilder von Tōmatsu Shōmei oder Narahara Ikkō sind Dokumente einer intensiven Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte Japans, die durch die Spuren des Krieges und die Amerikanisierung eines einst traditionell auf sich selbst bezogenen Landes geprägt waren.
In der Serie 11:02 Nagasaki dokumentiert Tōmatsu Shōmei bis ins kleinste Detail die Auswirkungen des Bombenabwurfs. Die für Tōmatsu charakteristischen Nahaufnahmen zeigen die tiefen Narben, die die Katastrophe sowohl physisch bei den Überlebenden, als auch psychisch bei einer ganzen Nation hinterlassen hatte. Der Titel der Serie 11:02 Nagasaki steht für den Zeitpunkt der Katastrophe, die sich am 9. August 1945 um 11:02 vormittags ereignet hatte, als die Atombombe in Nagasaki explodierte. Um das Ausmaß der Tragödie bildlich festzuhalten, fotografierte er entstellte Menschen, zerstörte, verbrannte und geschmolzene Objekte, die durch die Kraft der Zerstörung teils bis zur Unkenntlichkeit aus ihrer ursprünglichen Form gebracht wurden.
Im Gegensatz zu den Ländern Europas sah sich Japan zum ersten Mal in seiner Geschichte mit einem verlorenen Krieg und der Besetzung durch feindliche Armeen konfrontiert. Durch die Auseinandersetzung mit der Kriegschuld musste Japan sowohl einen politisch-gesellschaftlichen als auch einen kulturellen Neuanfang finden. Der Kaiser kapitulierte und schwor seiner „Göttlichkeit“ ab, das grundlegende Wertesystems Japans und sein bis dato fest umrissenes Selbstverständnis wurde außer Kraft gesetzt. Der daraus resultierende Schock führte zu einem Verlust der nationalen Identität und machte Japan für lange Zeit zu einem orientierungslosen Land, das sich auch in künstlerischer Hinsicht neu definieren musste.
Die Fotografen einer Generation nach Tōmatsu und Narahara, der „Post-Hiroshima Generation“, suchten nach einer Möglichkeit, mit ihrer Kunst authentische Antworten auf gesellschaftspolitische Fragen zu geben und die traditionell verwurzelte, starre Gesellschaft Japans zu verändern. Ihr radikaler Bruch mit der überlieferten fotografischen Darstellungsweise stellte den Versuch dar, sich von der konventionellen japanischen Formsprache loszusagen sowie sich von den westlichen Vorbildern zu emanzipieren. Dieses führte zu einem Durchbruch der japanischen Fotografie.
Einer der renommiertesten japanischen Fotografen ist der inzwischen international bekannte Fotograf Araki Nobuyoshi. Seine Bilder gefesselter Frauenkörper thematisieren und ästhetisieren Sexualität und Tod gleichermaßen. Araki zufolge ist der Tod in seinen Fotografien, deren Hauptthema sexuelle Leidenschaft ist, allgegenwärtig. Durch die Fesselung verwandelt der Fotograf einen lebendigen, dynamischen Körper in einen statischen Gegenstand und bringt den Körper seiner Modelle buchstäblich zum erstarren.
Die Problematik, sich zwischen traditioneller Kunst und westlichen Vorbildern selbst zu verwirklichen und dabei ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen beiden zu finden ohne dabei in die eine oder andere Richtung zu tendieren, ist den japanischen Fotografen seit der Einführung der Fotografie bekannt. Diese Auseinandersetzung mit dem Westen zwingt die Fotografen zu einer ständigen Konfrontation zwischen dem Eigenen und dem Fremden. „Kulturelle Identität“ bedeutet also für den Fotografen, seine künstlerischen Ideen in einem Spannungsfeld östlicher und westlicher Einflüsse, zwischen Tradition und Moderne, durchzusetzen und sich darüber hinaus eine spezifisch japanische Sichtweise zu bewahren.
Mark Hachmann
Mark Hachmann ist Japanologe und freischaffender Fotograf.
Literaturtipp: Tucker, Anne Wilkes u.a.: The History of Japanese Photography. New Haven & London: Yale University Press 2003.
Bild 1) Tōmatsu Shōmei: O.T., aus 11:02 Nagasaki-Serie , 1961
Bild 2) Araki Nobuyoshi