Ordnung der Bilder
Jedenfalls mehr als etwa vor fünf Jahren, als jeder nur ungefähr wusste, dass mit dem „pictorial“ oder dem „iconic turn“ etwas Wichtiges und für unsere Kultur und ihre Analyse etwas Entscheidendes gemeint sein muss. Indessen wird - mit wenigen Ausnahmen - heute kaum jemand in der Lage sein zu erklären, was denn die Bildwissenschaft genau ist und welchen Gegenstandsbereich sie umfassen soll. Darüber gibt es heftige Diskussionen und kontroverse Rangeleien. Ebenso darüber, welches Fach die größte „Bildkompetenz“ besitzt oder gar die rahmengebende Leitwissenschaft ist. Die Situation ist vergleichbar mit den Querelen über das „Visuelle“ und die „Visualität“ in den visual culture studies. So unabdingbar präzise wissenschaftliche Diskussionen in dieser Sache sind, so unfruchtbar scheinen mir die Streitereien zugleich, in denen es nicht zuletzt um wissenschaftspolitische Pfründe geht.
Worin würden Sie Ihren Beitrag zu einer solchen Bildwissenschaft sehen?
Das Anliegen meines Buches besteht unter anderem darin, einzelne Positionen in der bildwissenschaftlichen Diskussion genauer in ihrer historischen und systematischen Bedingtheit zu befragen, daneben aber auch nach Anschlüssen (und nicht nach Ausschlüssen) zu suchen, die selbst solche Ansätze verbinden können, die in der Regel unüberbrückbar scheinen.
Mein eigener Ansatz hat seinen Ort und seine eigene Geschichte in den Gründerjahren des Zentrums für Kunst und Medientechnologie, wo man noch begeistert über Utopien zu neuen körperlosen und unsterblichen Welten im immateriellen elektronischen Bilderraum diskutierte, in dem alles erfüllbar würde. Etwas nüchterner und mit historischer Skepsis, die viel Neues schnell alt werden sieht, hat man sich hier - von Hans Belting ausgehend - zugleich auch um eine historisch anthropologische Perspektive auf die lange Geschichte der Bilder bemüht, die ja um ein Vielfaches älter ist als etwa die Geschichte der Schrift. Aus solcher Perspektive lassen sich bestimmte Zäsuren, aber auch bestimmte Kontinuitäten in der Bildgeschichte, die eher anthropologisch denn rein technologisch zu verstehen sind, genauer ausmachen. Denn bei allen grundsätzlichen technischen Unterschieden und ihren sozialen Auswirkungen scheinen die Differenzen von „alten“ und „neuen“ Bildern nicht so absolut zu sein wie oft dargestellt und keiner technischen Teleologie zu folgen.
Maßgebend ist hierfür natürlich auch eine interkulturelle Perspektive, welche die unterschiedlichen Imaginationen und Bilder der anderen Kulturen ins Blickfeld rückt. Bildwissenschaft muss eine historische Perspektive haben und kann sich nicht allein auf einer systematischen Achse entfalten, die sich schließlich nur noch um sich selbst dreht. Aber mit einer historischen Anthropologie der Bilder zu argumentieren heißt nicht, von der einen „Struktur“, dem „Bild“ oder dem „Menschen“ zu sprechen, sondern allenfalls von sehr variablen Konstanten in einer longue durée. Das enge Verhältnis von bildlicher Re-Präsentation und Tod etwa wäre ein solches Thema. Eine umfassende Ikonologie, wie sie von Aby Warburg entwickelt wurde, die stark von der Energetik des Körpers aus gedacht ist, war hier von Anfang an von großer Bedeutung und wird noch bedeutender werden, wenn man einmal in das neue Buch von Tom Mitchell hineinschaut. Bilder können demnach die Geschichte ihrer stets notwendigen Medien durchqueren, in unterschiedlichen Zeiten aktiv bleiben, verschwinden und wiederkehren. Warburg hat hier den Gedanken des Achronischen geprägt, den Georges Didi-Huberman, nur wenig verändert, im Begriff des Anachronismus der Bilder übernommen hat.
Eine Bildwissenschaft müsste weg kommen von kleinlichen Bilddefinitionen, nach denen nur dann etwas ein Bild ist, wenn es flächig, artifiziell und dauerhaft ist, was ja eine Unmenge an historischen Bildphänomenen ausschließt. Der Begriff „Bild“, wie viele andere Begriffe auch, lässt sich nun einmal nicht sauber und geschichtslos destillieren. Aber zugleich dürfte man auch nicht von der gesamten visuellen Kultur und ihrer skopischen Regime ausgehen, wo alles nur irgendwie Visuelle verhandelt wird, was ja ein Problem der visual culture studies geblieben ist. Hingegen plädiere ich mehr dafür, von einer engeren symbolischen Kultur der Bilder auszugehen, die bestimmte Medien, Formate, Rahmungen, Formen, aber auch Orte für Bilder vorgibt und die insbesondere auch bestimmte Kulturtechniken eingeübt und ritualisiert hat, die nur vor Bildern Sinn machen und ansonsten eher verhaltensauffällig wären: etwa im Museum vor einem Bild zu stehen, den Fernseher einzuschalten oder im Kino zu sitzen und darauf zu warten, dass es endlich dunkel wird. Das ist nicht einfach nur das Desiderat eines Kunstwissenschaftlers, sondern macht dann Sinn, wenn wir von einer Kultur der Bilder sprechen. Dementsprechend mache ich auch, bei allen bestehenden Schnittmengen, Abgrenzungen zu zwei Positionen im Bilddiskurs, die meines Erachtens einen historischen Dualismus von Innen und Außen nur weiter radikalisiert, aber nicht aufgehoben haben: Auf der einen Seite zum Konstruktivismus der aktuellen Hirnforschung, die im Mikrokosmos der Neuronen den mechanischen Apparat der Natur entdeckt und zum nachweisbaren Befund kommt, daß die Wahrnehmung zu allerkleinsten Teilen von äußeren Sehdaten ausgeht und das allermeiste konstruiert wird. In gewissem Sinn ist dann alles Gesehene schon ein Bild, wahrgenommene Bilder wiederum Bilder von Bildern usf. Dabei zeigen die Hirnforscher doch nur Bilder vom Hirn, aber nicht die Bilder im Hirn. Sie zeigen, dass gesehen, aber nicht was gesehen wird. Auch Psychologen können das Gesehene nur indirekt befragen, wozu aber die materielle Kultur der Bilder gleichsam einen hervorragenden Spiegel liefert. Auf der anderen Seite ziehe ich eine Trennlinie zu Ausläufern postmoderner Hyperrealitätsideen, nach denen die Welt, was immer sie ist, von äußeren technischen Bildern simuliert wird und darin verschwunden ist. Auch in diesem Sinn wäre alles Bild bereits und nichts mehr Bild zugleich, und man könnte sich allein noch über die Technologien des Imaginären unterhalten. Beide Seiten sind mir zu ausschließend.
Dreh- und Angelpunkt Ihres Ansatzes bildet die Trias Bild – Körper – Medium. Alle drei Konzepte stehen in einem „dynamischen Dreiecksverhältnis“. Wie ist das zu verstehen?
Das ist eine Trias, die im besagten Kontext entstanden ist, in enger Zusammenarbeit mit Hans Belting und seiner „Bild-Anthropologie“. In der Arbeit des Graduiertenkollegs, das für solche interdisziplinären Forschungen mit die beste Einrichtung ist, haben sich diese heuristischen Koordinaten als sehr tragfähig erwiesen, gerade für historische und interkulturelle Bildfragen. In einem sehr allgemeinen Schema ausgedrückt stellt sich dieses Verhältnis so dar: Kein äußeres Bild kann ohne ein Medium bestehen, von dem es gespeichert, getragen, übertragen und zur Erscheinung gebracht wird, in dem es materialisiert, objektiviert und sichtbar gemacht wird. Zugleich kann kein Bild bestehen, wenn es nicht von einer Betrachterin oder einem Betrachter wahrgenommen und so von einem externen Bild wieder in ein inneres Bild transformiert wird, das im Körper gespeichert, bewertet, kognitiv und emotional umgesetzt und überhaupt als Bild erkannt wird.
Was die Medien als Bildkörper für die äußeren Bilder sind, das sind, in einem übertragenen Sinne, die Körper für die inneren Bilder und die Bildung eines inneren Bildgedächtnisses. Schließlich sind es vor allem Körper, die mit unterschiedlichen und kulturspezifischen Intentionen als Bilder dargestellt, inszeniert und durch Bilder substituiert oder selbst in Bilder verwandelt werden. Auch die so genannten gegenstandslosen Bilder, so sehr sie zu einem immateriell Geistigen transzendieren sollen, beziehen sich auf Körper, werden vom Körper aus gedacht und haben vor allem einen Bildkörper, über den sie wahrgenommen werden können. In allen Fällen bedarf es eines kulturell bestimmten Mediums, um diese Verwandlung umsetzen zu können, wie ebenso eines Körpers in einer bestimmten kulturellen Situation, der diese Bilder wahrnimmt.
Sie sprechen in Ihrem Buch von einer „neuen Ikonologie“. Wie ist diese Ikonologie im Vergleich zur Ikonologie der traditionellen Kunstgeschichte zu sehen?
Fasst man den Begriff „Ikonologie“ so wie ihn Warburg prägte, fallen auch alle außerkünstlerischen Bilder darunter. Vor allem hat er damit eine genuine Logik der Bilder angesprochen, die vom Körper aus gedacht ist; vom Körper, den man als den ersten Bildträger und, wie es John M. Krois formuliert hat, als „Symbolmedium“ der Bilder verstehen kann, von dem sich mehr und mehr die Bilder losgelöst und verselbständigt haben, aber auf den sie in den allermeisten Fällen referieren. Wichtig ist daher, dass „Ikonologie“ nicht ausschließlich im vorgeprägten Sinn einer kunsthistorischen Methode gedacht wird, wie sie Erwin Panofsky entwickelt hat und die, oft kritisiert, stark auf der Logik vorgängiger Texte aufbaut. Diesen schönen Begriff wieder neu zu beleben, dafür spricht nicht zuletzt seine Übersetzbarkeit in andere Sprachen, insbesondere ins Englische, wo „Bildwissenschaft“ kaum verstanden wird und seine wörtliche Übersetzung mit „image science“ oder „picture science“ eine andere Bedeutung hat. Außerdem könnte man die meist von der Semiotik gewünschten Analogien zu einer „allgemeinen Sprachwissenschaft“ umgehen, mithin den Anspruch einer „allgemeinen Bildwissenschaft“, in welcher der theoretische und methodische Rahmen für alle Bilder aller Zeiten, aller Kulturen und aller Medien vorgegeben wird. Einem solchen gegenüber verhalten sich Bilder, wie mir scheint, doch eher undiszipliniert. Ich glaube daher nicht an eine zu schreibende Grammatik der Bilder oder dergleichen. Vielleicht bin ich aber nur kein besonderer Freund der strengen Systemlogik, die sich in letzter Konsequenz nur selbst bestätigt und allein das behandelt, was sich in die Prämissen einer bestimmten Logik einfügt.
Welche Fächer sollten an einer Bildwissenschaft beteiligt sein und welche Rolle spielt die Kunstgeschichte dabei? Kann es heute überhaupt eine Bildwissenschaft geben oder müsste man nicht von Bildwissenschaften sprechen?
Die Kunstgeschichte sollte diese Aufgabe, ohne sich freilich dabei selbst aufzugeben, sehr ernst nehmen, nicht als Ersatz für die Beschäftigung mit den hohen kulturellen Leistungen der Kunst und ihrer eigenen Geschichte, sondern als komplementäre Facette, zu der sie als eine genuin historische Bildwissenschaft, aber auch mit ihrem theoretischen Niveau sehr viel beitragen kann. Der kritische Umgang mit der eigenen Sinnlichkeit der Bilder, die in anderen Fächern nur allzu leicht belächelt und als schöne Beschäftigung angesehen wird, ist hier eine Selbstverständlichkeit, mit der sich etwa Literaturwissenschaftler oder Philosophen, vorsichtig ausgedrückt, manchmal schwertun. Dazu gehört ein besonderes Verständnis für einen Sinn, der sich nicht verbal äußert. Das heißt aber gerade nicht, dass Bilder der Ratio der Sprache unterlegen und dieser gegenüber nur zweitrangig sind. Dies ist ja ein altes Vorurteil, dessen Gegenteil man seit Platons Verwerfungen immer neu beweisen muss. Dabei geht es nicht um einen paragone, sondern um Unterscheidungen. Kritisch in einem analytischen Sinn gegenüber den massenmedialen Bilder unserer Zeit zu sein, die täglich in die privatesten Räume gestrahlt werde und einen enormen Einfluss auf unsere Identität und Meinungen haben; aber auch ein größeres historisches Bewusstsein für die scheinbaren Selbstverständlichkeiten der Kunstwerke in der eigenen Kultur zu haben, um nicht zuletzt die bildlichen Leistungen anderer Kulturen besser verstehen zu können: das wären zwei wichtige Anliegen. Im Übrigen sollten sich möglichst viele Fächer an dem Unternehmen der Bildwissenschaft beteiligen, für die es keine Superdisziplin geben wird und für deren Verbund man noch eine große Fakultät erfinden müsste.
Martin Schulz ist wissenschaftlicher Koordinator des Graduierten-kollegs „Bild. Körper. Medium. Eine anthropologische Perspektive“ an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und Dozent für den Fachbereich „Kunstwissenschaft und Medientheorie“. Die Fragen stellten Annegret Gerleit und Jens L. Burk.
Schulz, Martin: Ordnungen der Bilder. Einführung in die Bildwissenschaft München, Wilhelm Fink Verlag, 2005. 29,90 Euro
Abb. 2 Totenmaske des Agamemnon, 16. Jh.v.Chr.
Abb. 3 Venus von Willendorf, 25.000 v.Chr.
Abb. 4 Bill Viola, 2001