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Das Bild in mir

In der antiken Philosophie galt Sehen gemeinhin als eine Ausdrucksform des Tastsinns. Das Licht entspringt an einem weit entfernten Punkt, der viele Kilometer oder - wie das Licht der Himmelskörper - Millionen von Lichtjahren entfernt sein kann, und trifft auf die lichtempfindliche Oberfläche der Kameralinse, auf den Kontaktpunkt. Die Arbeit mit der Videokamera beinhaltet daher auch immer das Reisen, den Schritt hinausin die physische Welt, um mit dem Bild in Kontakt zu treten, sein Licht festzuhalten. Aber jedes Mal, wenn ich eine Kamera in die Hand nahm, war da eine unausgesprochene Spannung, ein Gefühl, dass ich ein Bild »aufnehme« oder »einfange« - vertraute Wörter, die wir benutzen, um den entscheidenden Akt der fotografischen Kunst zu beschreiben. Es kam mir vor, als müsste ich das Bild fassen, bevor es mir entkam, als müsste ich es »schießen«, wie bei der Jagd. Die Kamera gab mir das Gefühl, dass sich da draußen in der Welt Bilder befanden, die man pflücken konnte wie reife Früchte, und dass es meine Aufgabe war, das vollkommene Bild, den vollkommenen Augenblick aufzuspüren.

Aber nach und nach begriff ich, dass diese Bilder in mir waren, nicht in der Kamera, und meine Beziehung zur Landschaft, zum Motiv, wurde mehr zu einer Art Tanz, einem schwierigen Balanceakt, in dem Wahrnehmung und Erinnerung zusammenfielen.

Die Videokamera ist ein ganz besonderes technisches Gerät. Sie verkörpert die Verbindung von Wahrnehmung und Erinnerung. Sie hält die spontane Abfolge der Ereignisse fest, die Flut von Bildern, die sich innerhalb des Lebensfeldes ununterbrochen entfalten und verändern, und fügt die eingefangene Wahrnehmung dann im Playbackverfahren an einem späteren Punkt wieder in den Zeitstrom ein. Im Kino passiert natürlich etwas Ähnliches, aber das Bild entsteht erst später,wenn der Film entwickelt ist. In der Videoaufzeichnung wird das Bild direkt übertragen. Es existiert parallel zum Fluss der Zeit. Die Entwicklungslinie der Technologie lässt sich von der Fotografie zum Kino und dann weiter bis hin zur Videotechnik und den digitalen Medien verfolgen. Dass lebendige, dynamische Bilder und eine universale Bildsprache Bestandteil menschlicher Bildproduktion werden und private und öffentliche Bereiche miteinander verbinden, ist in der Geschichte der Menschheit ein beispielloses Ereignis.

Doch die Kamera hat noch eine weitere entscheidende Funktion: Sie grenzt Information ein. Sie ist keineswegs, wie oft behauptet wird, das offene Fenster zur Welt, sondern engt vielmehr das Blickfeld ein, beschränkt die schiere Masse der visuellen Information, die auf uns einstürzt. Wenn wir die Kamera auf eine Stelle richten, sehen wir nicht mehr, was an anderer Stelle vor sich geht. Darin liegt die sehr reale politische Sprengkraft dieses Mediums.

Gleichzeitig aber erweitert die Kamera, und vor allem die Videokamera, das Erlebnis. Sie kreiert leuchtende, strahlende elektronische Bilder in dem Moment, in dem sie geschehen. Vom künstlerischen Prozess her betrachtet, nimmt sie dem Künstler damit ab, die Bilder von Hand herzustellen - ein zeitaufwändiger Vorgang, der den Beobachter außerdem von der Erfahrung trennt.

Mit der Kamera kann der Bildmacher gleichzeitig beobachten und teilnehmen und sich innerhalb und außerhalb einer Erfahrung befinden. Es ist kein Zufall, dass dies exakt auch als Beschreibung auf den Ort zutrifft, den das Individuum in unserer heutigen Mediengesellschaft einnimmt.

(aus: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S.201)

Kunst, WirklichkeitB. Viola