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Bildwissenschaft Heute

Dass [Warburg] Bildenergieforschung betrieben hat, also die Form als einen Ausdruck und zugleich Träger von politischen, psychischen, kulturellen Energien begriffen hat. Dies sind die beiden Quellen, die ihn für mich bis heute zu einer Art Vorbild machen. (…)

Wenn man von Bildwissenschaft redet, ist damit eine Entgrenzung der klassischen Kunstgeschichtsschreibung und Kunsttheorie gemeint? Sie haben vor Jahren gesagt, dass die Dominanz der Sprache durch die Hegemonie der Bilder abgelöst sei, auch das Wort von der Bildwissenschaft ist mit Ihrem Namen verbunden. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, dass die Erweiterung des kunsthistorischen Terrains auch eine Erosion zur Folge hatte.

Auf der ersten Seite meiner Dissertation von 1974 steht der Satz: »Ich spreche nicht von Kunst, sondern vom Bild. « Wenn ich aber von der Hegemonie der Bilder gesprochen haben sollte, würde ich heute ergänzen, dass es umso stärker darauf ankommt, die Präzision und die Sinnlichkeit der Sprache zu schützen und zu nutzen. Auch hierin liegt der Wunsch nach einer Bildwissenschaft, die sich, sprachlich präzisiert, mit Bildern aller Gebiete zu beschäftigen vermag. Zur Frage der Erosion: Nach etwa zehn Jahren, in denen diese Verschiebung mittels der Begriffe des iconic turn durch Gottfried Boehm und des pictorial turn durch Tom Mitchell fixiert wurde, ist eins deutlich geworden – man kann keine Bildwissenschaft betreiben, ohne die zuständigen Disziplinen, also die Kunstgeschichte und die Archäologie, und ihre Methoden einzuschließen. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass man Bildwissenschaft betreiben könnte ohne Bildforschung. Dieses Unterfangen ist für meinen Begriff grandios gescheitert. Bildwissenschaft ohne Bildforschung bleibt am Ende entweder rein begriffliche Rhetorik oder begriffslose Anwendung.

Welches ist der spezifische Wandel der Perspektive, der sich heute im Wechsel der Begriffe widerspiegelt?

Es gibt ein wunderbares Buch von James Elkins: »Warum auf Bildern geweint wird und warum Bilder zum Weinen bringen«. Wer das Phänomen unterschätzt, dass Bilder emotionale, körperliche Reaktionen hervorrufen können, wird sich der Problemtiefe, die von visuellen Phänomenen ausgeht, überhaupt nicht nähern können. Diese Eigenschaft von Bildern ist der Grund dafür, dass eine Reihe von Kollegen und ich selbst die Zeichentheorie und die Semiologie für hoch interessant, aber für begrenzt halten. Bilder, visuelle Phänomene haben eine nichtberechenbare Kraft. Zumindest eine Semiologie, die glaubt, die Bedeutung von Zeichen kennen und gleichsam grammatikalisch erschließen zu können, greift zu kurz. Von Gottfried Böhm stammt die vielleicht sehr pointierte, aber meines Erachtens treffende Feststellung: Wo die Semiotik aufhört, beginnt die Kunstgeschichte.

Es gab jetzt an Ostern etwas Erstaunliches im Fernsehen zu erleben. Da saß Papst Johannes Paul II. in seiner Wohnung, seiner Privatkapelle, vor einem großen Monitor. Man sah den Papst von rückwärts, und er sah die Menge, die sich auf dem Petersplatz versammelt hatte, um ihn zu sehen. Es war ein doppeltes Fernsehbild der doppelten Abwesenheit. Dazu der Satz des Papstes: »Von meiner Wohnung aus bin ich über das Fernsehen spirituell bei euch.«

Dies ist ein durchaus wahrer Satz. Er begründet die Beobachtung, dass Medien Bilder weder bestärken noch schwächen können. Sondern dass Bilder durch Medien substanziell hindurchwirken. Was der Papst beschreibt, ist durch eines der für mich großartigsten Kunstwerke der letzten Jahrzehnte, TV Buddha von Nam June Paik, formuliert worden. Die Buddha-Figur, die sich auf dem Fernsehschirm selbst projiziert und kontemplativ betrachtend wiederfindet, ist eine Form der Substanzialisierung des Fernsehbildes. Sie spricht dieselbe Ebene an wie der Papst mit seiner Äußerung. Begriffe wie Bilderflut unterschätzen und vergötzen die Medien zugleich.

Warum nimmt man eigentlich an, dass das Fernsehen die Bilder verdünnt? Man könnte es doch als reines Transportmittel verstehen.

Der Grund der Missachtung des Fernsehens liegt in der immerwährenden Präsenz. Was 24 Stunden auf zahllosen Kanälen zu sehen ist, schwächt sich durch Einebnung; nur was sich zu entziehen vermag, hat tieferen Wert. Das ist die Annahme. Ich halte sie für falsch. In Blitzen der Präsenz wie bei den Papstbildern wird sie durchkreuzt.

Sie haben den Begriff des Analphabetismus im Umgang mit Bildern geprägt – durchschauen wir die rhetorischen Mittel der Sprache besser als die der Bilder?

Ich würde dies vermuten. Der Grund liegt wohl in dem Missverständnis, dass die Sprache als etwas begriffen wird, das sich in seiner Künstlichkeit den Instrumenten der Kritik und der Analyse wie von selbst öffnet. Wohingegen von Bildern erwartet wird, dass sie eine äußere Realität unmittelbar wiedergeben. Die Realitätserwartung gegenüber Bildern ist höher als gegenüber der Sprache. Es ist aber ein falscher Schluss, zu glauben, dass Bilder Realität unmittelbar illustrieren. Mein Umgang mit Bildern hat im Grunde ein Ziel: die Bekämpfung des Begriffes Illustration. Bilder illustrieren nie, selbst Fotografien illustrieren nicht, sondern sie geben das, was sie darstellen, eigentätig wieder. Und diese Distanz darzustellen ist die vornehmste Aufgabe einer begrifflichen Bildanalyse und Bildkritik. (…)

Die Beziehungen zwischen Wissenschafts- und Kunstgeschichte sind traditionell sehr eng. Gibt es ein neues Verhältnis zur Philosophie?

Kunstgeschichte war lange Zeit gleichsam die Scheuerwunde der Ästhetik. Ich empfinde das Verhältnis von Philosophie und Kunstgeschichte aber in der Tat im Moment als fruchtbar, weil vielleicht zum ersten Mal seit dem Byzantinischen Bilderstreit in einer Finesse über Bilder nachgedacht wird, die über alle Fragen ihrer Nutzbarkeit und ihres Scheincharakters hinausgeht. Ich glaube, dass die Bildgeschichte im Moment eine Funktionsweise von Bildern zu rekonstruieren vermag, die sich auf eine Sphäre richten, in der sich die affektive Kraft eines Bildes von Velázquez ebenso ereignet wie die Erscheinung des Papstes auf dem Bildschirm: nämlich in einer tief unterhalb jeder Abbildtheorie liegenden Zone des Bildakts. An dieser Theorie arbeite ich. Im Sinne dieser Erweiterung von Martin Warnkes politischer Ikonologie habe ich bei Hobbes und Leibniz zu zeigen versucht, dass Denken nicht durch das Abbilden vom Denken in Bildern, sondern durch die bildaktive Bewegung überhaupt erst konstituiert wird, in Zeichnungen, Statuen oder auch Instrumenten. Das ist für mich der »heiße Kern« dessen, was den iconic turn ausmacht. Er war von Boehm nicht als Gegenstandserweiterung gedacht, sondern als eine neue Art des Philosophierens. Bevor man nicht diesen Kern der Bildaktivität fokussiert, wird man meines Erachtens immer an Oberflächenphänomenen laborieren, auf jedem Gebiet. Warburgs Aussage über das Bild: »Du lebst und tust mir nichts«, meint natürlich genau das Gegenteil.

Das sind ja starke Ausgriffe der Kunstgeschichte, oder sagen wir: der Bildwissenschaft in die Bereiche von Philosophie, Politologie, Physiologie oder auch, am Beispiel der Wunderkammern, der Evolution in den Naturwissenschaften. Versteht sich Bildwissenschaft als eine neue Universalwissenschaft, die alle übrigen Fächer integrieren kann?

Ich würde jede Form von Terrainbestimmung vermeiden. Die Bilder gehören nicht der Kunstgeschichte. Sie gehören jedem. Kunstgeschichte ohne Interdisziplinarität ist von einer traurigen Begrenztheit, und immer wieder, und jetzt am Berliner Wissenschaftskolleg, habe ich den wechselseitigen Gewinn der Transdisziplinarität erlebt. Man benötigt aber, um sich austauschen zu können, Gravitation, und daher beharre ich auf der Spezifik der Bildanalyse und der Spezifik des Umganges mit dreidimensionalen Gebilden wie der Tasse, die vor uns auf dem Tisch steht. Um eine Tasse oder ein Bild präzise beschreiben zu können, braucht man Monate, wenn nicht Jahre der Schulung. Ich meine das nicht als Metapher. Jedweder Person, die sich bildwissenschaftlich betätigt, ist diese Schulung auferlegt.

Der Artikel ist ein Auszug aus einem Interview, erschienen in der Wochenzeitung „Die Zeit“ (15/2005), unter dem Titel „Im Königsbett der Kunstgeschichte“. Das Interview führten Jens Jessen und Petra Kipphoff. Die Veröffentlichung erfolgt mit der freundlichen Genehmigung des Autors.