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Bilderfragen

Zu einem Sammelband über Bildwissenschaften im Aufbruch

Drei Jahre ist es her, dass sich in Wien bei der Tagung "Bildwissenschaften? Ein Zwischenbilanz" zwei Protagonisten des "Turns" zum Bild begegneten. W.J.T.Mitchell hat Anfang der 90er Jahre den Begriff des "pictorial turn" geprägt, Gottfried Böhm sprach kurz darauf erstmals vom "iconic turn".Beide Turns sind dem Vorbild des 1967 von Richard Rorty ausgerufenen "linguistic turn" nachgebildet. Der Sammelband zur Tagung veröffentlicht nun einen Briefwechsel, in dem beide Forscher ihre Begriffsbildungen klärend einander gegenüberstellen.

Einig sind sie sich, dass es sich bei der Wende zum Bild nicht um eine kurzlebige Mode handelt, sondern um einen nachhaltigen Wandel. Von grundsätzlichen Übereinstimmungen abgesehen, könnte die ideengeschichtlichte Herleitung der beiden Ansätze gegenläufiger kaum sein. Mitchells pictorial turn orientiert sich an der Materialität des Bildes, geschult an McLuhan, Foucault und Goodmann. Boehm dagegen begreift den Iconic Turn im Rahmen einer an Gadamer und Imdahl orientierten Hermeneutik. Im Gegensatz zu Boehm möchte Mitchell den Impuls seiner Wende zum Bild auf soziale und politische Fragen ausdehnen.

Herausgegeben wurde der Band von Hans Belting, der auch die Einleitung verfasst hat. Man hat es in letzter Zeit oft erlebt, dass die Wortführer der gerade entstehenden Bildwissenschaft viel Energie darauf verwenden, ihren je eigenen Ansatz in den Vordergrund zu rücken. Dieser Versuchung widersteht auch Belting nicht. "Die Frage nach dem Bild ist anthropologischer Art", erklärt er mit eigentümlich dogmatischer Selbstgewissheit. Letztlich sollte eine Disziplin es jedem Forscher freistellen, die Frage nach dem Bild methodisch unterschiedlich anzugehen.

Der Band im Ganzen folgt der anthropologischen Vorgabe zum Glück nur hier und da. Man trifft man eine lose Sammlung von Thesen, die ab und an methodische Fragen streifen, um sich ansonsten oft in den Senken akademischer Detailversessenheit zu verlieren. Es folgt ein Streifzug durch eine Auswahl einiger Thesen.

"Bilder entstehen ohnehin nur im Blick"(49) erklärt Belting in einer solipsistisch anmutenden Wendung. "Bildmedien scheinen zu 'blicken', also sich wie Körper zu verhalten, während Körper wie Medien reagieren und Blicke mit Medien tauschen."(66) Klare begriffliche Grenzen zwischen Ausdrücken wie Bild, Körper und Medium werden auf diese Weise ganz bewusst verschleift, ohne dass sichtbar würde, zu welcher Erkenntnis diese Strategie verhilft. 

Mit der "ikonischen Differenz" als einem "fließenden Übergang zwischen kontinuierender Unbestimmtheit und diskreten Kontrasten"(81) schlägt Gottfried Boehm einen Weg vor, dem Zeichenhaften und seinem Zuordnungszwang mit einer Logik des Zeigens zu entkommen. Im Hinblick auf eine künftige Bildwissenschaft findet sich hier einer der fruchtbarsten Gedanken des ganzen Bandes.

Wie kulturell unterschiedlich der Gebrauch von Bildern sein kann und wie ein und dasselbe Medium in verschiedenen kulturellen Bezügen ganz anders eingesetzt wird, zeigt Ilka Brändle in ihrem aufschlussreichen Beitrag über das Foto als Bildobjekt.
Eine Geschichte des Bildes nach dem Zeitalter der Kunst vespricht Peter Geimer im Untertitel seines Aufsatzes, um sich dann in der Betrachtung einer frühen Fotografie zu verlieren, auf deren Abzug sich eine Fliege geschmuggelt hat.
Hans-Dieter Huber nähert sich den Bildern der Gegenwart am Beispiel der VJ-Kultur. Methodisch vertritt er eine sogenannnte systemische Bildwissenschaft, deren Ansatz er mit einer etwas tautologischen Formulierung umschreibt: "Systemische Bildwissenschaft geht davon aus, dass eine Beobachtung von Bildern ohne einen konkreten Beobachter nicht möglich ist." (129) Wer wollte das bezweifeln?
Gegen die sogenannte "Schichtenlehre" der Kunstgeschichte, wie sie etwa Sedlmayr oder Panofsky vertreten, will Klaus Kröger Bilder als 'Palimpseste" - also Ausradierungen und Überschreibungen - lesen, ohne dass es ihm allerdings gelingt, diesen Gedanken klar und über die angeführten Beispiele hinaus weisend zu formulieren.
Eine eigenwillige Konsequenz aus der Möglichkeit, Lebewesen zu klonen, zieht Christiane Kruse. "Jetzt, da die Biotechnologie in der Lage ist, Lebewesen mit eigens dafür erfundenen Biotechniken zu erzeugen, scheint es, dass das Bildsein der Bilder überwunden ist."(167)  Weder v or noch nach der Lektüre ihres Beitrags lässt sich dieses Argument nachvollziehen.
"Kulturtechnik" lautet das Stichwort, unter dem Thomas Macho sich den Bildern nähert - in der bemerkenswert klaren Definition von "Techniken, mit deren Hilfe symbolische Arbeiten verrichtet werden." Ganz im Sinn der Beltingschen Bildanthropologie gelangt er zu der Aussage, der tote Körper sei das erste Bild, die er mit Bildpraxis und -Theorie von den Äygptern über Platon bis ins 19. Jahrhundert belegt.
Dem in der europäischen Kultur gängigen Mimesis-Konzept des bildhaften Realismus stellt Birgit Mersmann einen anderen Zugang zu den Bildern gegenüber, der in der alten chinesischen Malerei vorherrscht. Er zielt nicht auf Nachahmung, sondern auf Handlungen im und mit dem Bild  und auf die eigentümliche Bewegung, in das Bild gleichsam einzutreten.

Die hauptsächliche Wirkung der Digitalisierung sieht W.J.TMitechel in seinem wohltuend sachlichen Beitrag nicht in der Manipulierbarkeit der Bilder, sondern in den neuen Formen ihrer " Zirkulation und Dissemination".(245)

Kulturen der Maskierung im tagtäglichen Fernsehprogramm verfolgt Martin Schulz und ist damit einer wenigen Autoren, die sich den zeitgenössichen Bildwelten jenseits der Kunst tatsächlich von der Seite ihrer Herstellung her zuwenden.

Der Mediävist Horst Wenzel, dessen Blick aus der Ferne mittalterlicher Kultur immer wieder neue und überraschende Zusammenhänge zu erschließen vermag, leitet aus der früher  ganz üblichen Verschränkung von Schrift und bildlicher Darstellung den Wunsch nach einer kombinierten Text-Bildwissenschaft ab.

Eines der erstaunlichsten Merkmale des Buches - worin es im übrigen vielen der jüngeren Bände zur Bildwissenschaft gleicht - ist die peinlich eingehaltene Distanz zu den Produzenten von Bildern. Die Beiträge nähern sich den Bildern so, als seien diese geradezu vom Himmel gefallen und nicht etwa von Menschen zu einem bestimmten Zweck und womöglich mit wohlüberlegter Absicht angefertigt worden. Nur ganz selten scheint das Bewusstsein durch, dass auch die Bilder jenseits der Kunst kulturelle Artefakte sind. So gut wie nie werden die Auskünfte von Bildermachern zu Rate gezogen, drohen sie doch die unbekümmerte geisteswissenschaftlicher Exegese zu stören. Damit aber fällt eine solche Bildwissenschaft hinter die Kunstgeschichte zurück, die sich zeitweise doch immerhin die Mühe gemacht hat, Aussagen, Praktiken und Techniken von Künstlern zu berücksichtigen.

 

Hans Belting (Hrsg.) : Bilderfragen. Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007.

Inhalt:

Hans Belting: Die Herausforderung der Bilder. Ein Plädoyer und eine Einführung

Gottfried Boehm: Iconic Turn. Ein Brief

W.J.T. Mitchell: Pictorial Turn. Eine Antwort

Hans Belting: Blickwechsel mit Bildern. Die Bildfrage als Körperfrage

Gottfried Boehm: Das Paradigma 'Bild'. Die Tragweite der ikonischen Episteme

Ilka Brändle: Das Foto als Bildobjekt. Aspekte einer Medienanthropologie

Peter Geimer: Das Unvorhersehbare

Hans Dieter Huber: Visuelle Musik in der Erlebnisgesellschaft

Klaus Krüger: Das Bild als Palimpsest

Christiane Kruse: Nach den Bildern. Das Phantom des transikonischen Bildes

Thomas Macho: Körper der Zukunft. Vom Vor- und Nachleben der Bilder

Birgit Mersmann: Das Bild als Spur. Transgressionen und Animationen

Reinhart Meyer-Kalkus: Blick und Stimme bei Jacques Lacan

W.J.T. Mitchell: Realismus im digitalen Bild

Jean-Luc Nancy: Distinktes Oszillieren

Elisabeth von Samsonow: Bilder und Codes von Plastizität

Martin Schulz: Ent-Larvung. Zum Anachronismus der TV-Gesichter

Serge Tisseron: Unser Umgang mit Bildern. Ein psychoanalytischer Zugang

Horst Wenzel: Zur Narrativität von Bilder und zur Bildhaftigkeit der Dichtung

Beat Wyss: Die Nachträglichkeit der Bilder. Freuds 'Wolfsmann'

 

Abbildung: Der schamanistische Seher Cang Je, der auch als mythischer Erfinder der chinesischen Schrift gilt. (im Band, S.201)