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Was Texte leisten und Bilder können...

Die Diskussion über Dauer und Art der ästhetischen Wahrnehmung ist uferlos: zu Anfang des 18. Jh. betonte Roger de Piles in seinem Cours de Peinture par Principes die entscheidende Bedeutung des allerersten Anblicks ("le premier coup d'oeil"); Herder machte in seiner Erwiderung auf Lessing aus diesem premier coup d'oeil den Einstieg in eine Kontemplation, die kein Ende hat: "der erste Anblick sei permanent, erschöpfend, ewig". Das Problem ist bis heute ungelöst: man weiß, wann man anfängt, ein Bild zu betrachten; aber man weiß - anders als bei einem Text - leider nie, wann man fertig ist.

Lessings Kriterien bedürfen einer gewissen Modifikation: das Betrachten eines Bildes und das Hören oder Lesen eines Textes sind beides Vorgänge in der Zeit. Bei Texten aber unterliegt dieser Wahrnehmungsprozess einer systemimmanenten Steuerung: der Text selbst bzw. dessen Autor oder Sprecher entscheidet darüber, wann und in welcher Reihenfolge der Rezipient etwas zu hören bekommt; bei Bildern hingegen gibt es (wenn überhaupt) nur eine schwache Möglichkeit der Steuerung: Klee hat den abtastenden Blick eines Betrachters mit einem weidenden Tier verglichen und gemeint, dass in jedem Kunstwerk dafür Wege eingerichtet seien; aber schon die Formulierung ist paradox: wo eine Weide ist, wird man keine Wege erwarten, und umgekehrt; vor allem aber: man kann auf solchen Wegen ebenso vorwärts wie zurück schreiten und sie auch ohne Schwierigkeiten verlassen.

Weil aber Bilder den Rezeptionsvorgang nicht zu steuern vermögen, können sie auch den Betrachter nicht durch die verschiedenen Stufen einer Handlung begleiten, sie können vorher und nachher nicht deutlich unterscheiden, sie können auch keine kausalen Verhältnisse entwickeln: sie können nicht erzählen.

Ebenso wenig können Bilder argumentieren. Es gibt unzählige Techniken der Argumentation: aber letzten Endes beruhen alle darauf, dass aus gegebenen Prämissen bestimmte (notwendige oder auch nur wahrscheinliche) Schlussfolgerungen gezogen werden. Ein solches Verfahren ist an Voraussetzungen gebunden, die rein grammatikalischer und damit sprachlicher Natur sind. Es muss möglich sein, zwischen dem, was ist, und dem, was sich in Zukunft ereignen könnte, zu unterscheiden; es muss möglich sein, verschiedene Sachverhalte so miteinander zu verknüpfen, dass einer den anderen begründet oder mit ihm kompatibel ist oder ihn ausschließt; und es muss möglich sein, Fragen zu stellen, sie zu bejahen oder zu verneinen. All das können Bilder nicht: sie kennen kein Fragezeichen und keine Negation; sie kennen keine unterschiedlichen Tempora und Modi; sie kennen keine kausale, konsekutive, adversative oder disjunktive Konjunktionen; schließlich fehlt Bildern auch jede Möglichkeit, einen gegebenen Einzelfall zu verallgemeinern.

Natürlich können Bilder narrative Stoffe aufgreifen, oder einen Sachverhalt darstellen, der eine bestimmte Argumentation unterstützt. Aber die Aufgabe, die passende Geschichte zu erzählen bzw. die argumentative Schlussfolgerungen daraus zu ziehen: diese Aufgabe kommt dem Betrachter zu. Bilder können einer Geschichte bedürfen und sie können zu einer oder vielen Argumentationen Anlass geben; aber sie selber können weder erzählen noch argumentieren. Was sie leisten liegt auf einer ganz anderen Ebene: Bilder machen Dinge sichtbar, die ohne sie vielleicht nicht sichtbar gewesen wären. Nicht weniger als das, aber auch nicht mehr. Das Sprechen über das, was ein Bild vor Augen führt, ist niemals Sache des Bildes, denn das Bild ist sprachlos: es ist Sache des Betrachters.

(Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1766)

(Luca Giuliani ist Autor des Buches Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst und Professor für Klassische Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München)