Jenseits der Sprache
Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln. Und erläuternd füge ich hinzu: Diese Logik ist nicht-prädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert.
Bildkompetenz und Bildkritik werden sich nicht entfalten lassen, wenn der Status des Ikonischen unscharf bleibt und Bilder zwar allerorten eingesetzt werden, ohne dass wir aber hinreichend genau wüssten, wie sie funktionieren.
Wir durchlaufen auf diesem Weg die folgenden Stationen:
1. Was meinen wir, wenn wir vom »Bild« reden?
2. Warum dient Sprachkritik dem Verständnis des Bildes?
3. Was heißt: Logik der Bilder?
Ich wähle zunächst eines der Hauptwerke des 20. Jahrhunderts, Henri Matisse; La Danse (von1909/10), dessen lapidare Komplexität unserer Absicht besonders entgegenkommt. Dabei lässt sich eine Teilung der einen Aufmerksamkeit beobachten. Einerseits wendet sie sich auf die fast ornamental klar geformten, roten Figuren, andererseits auf den begleitenden Horizont.
Was ist die »Sache« des Bildes? Nicht das eine oder das andere, sondern das eine im anderen. Und tatsächlich sehen wir sehr schnell, dass sich und wie sich diese Differenzierung vollzieht und wie ihr die Gegenkraft einer Verschmelzung antwortet. Wir gewahren eine energiereiche Spannung, bei der wir zunächst die Figuren vor dem Grund sehen, bevor sich dieser dann; die blaue Himmels- und die grüne Bodenfläche; nach vorne schiebt, in den ausgesparten Zwischenfeldern selbst Gestalt annimmt und mit den Tänzerinnen interagiert. Deren orgiastische Reigenbewegung, die sich motivisch oder narrativ als eine Ortsbewegung beschreiben lässt, kooperiert mit einer ganz anderen, der eines Austauschs der Bildgründe. Beide steigern sich wechselseitig, befeuert durch eine wirkungskräftige Farbgebung.
Was wir an La Danse und - cum grano salis - an anderen Bildwerken beschreiben können, ist der Übergang von einer starren Anordnung, bei der sich das Figurale vor dem Kontext befindet, in einen Prozess des Austauschs, in dem sich Sinn herausbildet. Die Akzentuierung des Performativen bringt die ikonische Sinnentstehung in Gang. Wenn wir von Bildern (flachen, plastischen, technischen, räumlichen) sprechen,meinen wir eine Differenz, in der sich ein odermehrere thematische Brennpunkte (Fokus), die unsere Aufmerksamkeit binden, auf ein unthematisches Feld beziehen. Wir sehen das eine im anderen. Diese Form der Beziehung kann gegebenenfalls doppelsinnig sein, so sehr wir gewohnheitsmäßig Bilder auch als optische Einbahnstraße von der Nähe in die Ferne, von den Dingen hin zu ihren leeren Hintergründen, lesen. Tatsächlich präsentiert sich unserer Sicht ja auch nur eine Ansicht, die auf das Auge hin organisiert ist und gleichsam zu uns zurückblickt.
Entscheidend für die Logik der Bilder ist aber nicht einfach dieser visuelle Befund, sondern sind darüber hinaus dessen kategoriale Implikate. Sie besagen, dass jedes Bild seine Bestimmungskraft aus der Liaison mit dem Unbestimmten zieht. Wir können gar nicht anders, als das Dargestellte auf seinen in ihm vorstrukturierten Horizont und Kontext hin zu betrachten. Dieser aber gehört einer prinzipiell anderen kategorialen Klasse an. Es ist mithin die visuelle Kontamination dieser beiden unterschiedlichen Realitäten, die den Anstoß dafür gibt, dass ein materieller Sachverhalt als Bild erscheint und jener Überschuss des Imaginären entsteht, von dem wir einleitend bereits gesprochen haben. Die »ikonische Differenz« vergegenwärtigt eine Regel der Unterscheidung, des visuellen Kontrastes, in der zugleich ein Zusammensehen angelegt ist. Ikonische Synthesen sind bereits in der Struktur unserer Wahrnehmung angelegt. Wir haben nichts anderes getan, als den Befund optischer Fokussierung in einem wandernden Sichtfeld - es gibt für den Menschen kein anderes Sehen - auf das Ikonische hin zu adaptieren. Bilder sind gewiss immer auch Festlegungen, sie lassen das Leben in Materie erstarren und erwecken es mit künstlerischen Mitteln scheinbar neu. Für die Sinnentstehung ist allerdings entscheidend, im Bild den Akt des Sehens wieder zu beleben, der darin angelegt ist. Erst das gesehene Bild ist in Wahrheit ganz Bild geworden.
(aus: Hubert Burda, Christa Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004, S.28, 29 und 40-42)