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Wenn Objekte zu Bildern werden...

Viele Wissenschaftler sprechen heute vom "Iconic Turn" oder "Visual Turn". Gibt es Ihrer Ansicht nach überhaupt einen "Iconic Turn"?

Eigentlich nicht. Wir sind alle mit dem Fernsehen aufgewachsen, und es ist ganz sicher, dass wir heute in erster Linie in Form von verbundenen Bildern (linked images) denken. Aber ich habe den Verdacht, dass wir das schon immer getan haben: Wirklich rationales Denken findet man jedoch selten. Es gibt wenig Menschen, die sich hinsetzen und ein Problem mit Hilfe von aristotelischen Syllogismen angehen. Auch Aristoteles ist ein Bild, Hegel ist ein Bild, Nietzsche und Oswald Spengler sind Bilder. Wäre ich Grafikdesigner, würde ich das alles vielleicht anders sehen. Aber ich betrachte Grafiker immer noch als Handwerker, nicht als Menschen, die mit ihrer Arbeit den Gang der Zivilisation verändern.

Allerdings gehen Kinder heute mit Bildern und Symbolen ganz anders um, als eine Generation vor ihnen…

Ich bin mit Fernsehen aufgewachsen, im Gegensatz zu meinen Eltern. Die haben damals auch solche Argumente verwandt und gedacht, dass ich mir durch das Fernsehen ganz neue Fähigkeiten aneignen würde. Aber unsere Zivilisation hat sich auch nicht geändert. Und heute erleben wir einen wahnsinnigen und immer noch wachsenden Verfall der Kulturtechnik Fernsehen. Mit anderen Worten: Selbst wenn es einen "Iconic Turn" geben sollte, heißt dies nicht, dass es nicht auch wieder einen "Post-Iconic-Turn" geben könnte.

In Ihrem Vortrag haben Sie vorgeführt, wie sehr die neuen Produktionstechniken unsere Wahrnehmung von Objekten verändern. Auch kleine Kinder können jetzt schon eine Art Ingenieur werden…

Der Schlüssel der Sache ist: Immer mehr Leute können an mehr Plätzen an einem Objekt interaktiv mitarbeiten. Mehr Brainpower kommt leichter an das Objekt heran, wenn es als Bild bzw. als Interface existiert, und an vielen Räumen zugleich sein kann.

Was ist das für ein Objekt, von dem Sie sprechen?

Das Objekt ist ein virtuelles Objekt, das sich "nur" im Computer befindet. Aber das wichtigste ist der Set von sozialen Interaktionen, der mit ihm einhergeht, die soziale Software: Da gibt es Leute mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten: Ingenieure, Graphiker, Verpackungsgestalter, einen Anthropologen vielleicht, Koordinatoren, Marketingleute… etc. Wer gestaltet heute Objekte? Es ist ein Team von Designern. Die 3-D-Objekte verschmelzen mit diversen anderen Aspekten. Das "reale" Objekt steht erst ganz am Ende. Zeit und Anstrengung beziehen sich auf das Objekt im Computer.

Verändern Bilder unser alltägliches Verhalten?

Ja. Vor allem wird es durch Bilderfolgen, durch den Vergleich zwischen Bildern verändert. Wenn Sie sich zum Beispiel vorstellen, dass man bald dreidimensionale Bilder von unseren persönlichen Organen machen wird. Technisch ist das schon jetzt möglich. Und in ein paar Jahren gibt uns unser Arzt statt einer Diagnose so ein Bild in die Hand, und sagt: "Sehen Sie mal, wie Ihre Leber aussieht. Und wie sie vor einem Jahr aussah." Es wird somit eine Art dauerhaftes Archiv unserer Bilder geben eine Abbildung des individuellen Zeitablaufs. Und das wird unser Verhalten verändern. Denn ein Bild hat schon an sich sehr viel Macht, aber ein Set von Bildern über die Zeit hat noch viel mehr Macht. Ich sage das, weil ich als jemand, der sich für zukünftige Entwicklungen interessiert, wirklich vom Ablaufen und Vergehen der Zeit fasziniert bin. Aber wir haben noch kein richtiges Muster, noch keine Vision, damit umzugehen. Die christlich-jüdische Kultur hat damit offenbar Schwierigkeiten.

Brauchen wir eine Bildwissenschaft und Bilderziehung?

Das klingt zunächst danach, als gehe es darum, den Jungen und Kindern etwas beizubringen, was wir selber wissen. Aber das stimmt ja nicht. Das geht gar nicht. Wir haben selber keine Lösung, wie genau wir mit Bildern umgehen sollen. Ob unsere Fähigkeiten ausreichen, Bilder wirklich zu verstehen, bezweifle ich. Grundsätzlich denke ich nicht, dass das deutsche Bildungssystem, so gut es auch sein mag, siebenjährigen Kindern irgendetwas über Bilder beibringt. Das wird nicht funktionieren. Die größte Drohung, die ich sehe, dass Bilder zum Privatbesitz werden, und der allgemeinen, öffentlichen Verfügung entzogen werden. So wie Disney sich die Exklusivrechte an Mickey Mouse gesichert hat. Es ist also im Prinzip auch Kindern verboten, Mickey Mouse zu zeichnen. Das ist ein Hornissennest.

(Das Interview mit Bruce Sterling führte Rüdiger Suchsland im Rahmen der Iconic Turn Veranstaltung am 20.12.2004 in München.)

Politik, ÄsthetikB. Sterling